Der Feuertänzer
Roman in drei Teilen von Anna Leoni
Der Fakir wirft seine langen schwarzen Locken in den Nacken, sein tiefgebräunter, muskulöser Oberkörper glänzt im Scheinwerferlicht. Dann beugt er sich ganz nah über den Mann auf der Tanzfläche und sieht ihm in die Augen. “Hans-Jürgen, hast du schon mal ein Babykrokodil gesehen?” Hans-Jürgen ist an einen Stuhl gefesselt. Er schüttelt den Kopf, sein dreifaches Doppelkinn schlenkert dabei von einer Gesichtshälfte zur anderen. Der Fakir schleicht mit den geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze um den Stuhl herum. “Aber du hast schon mal ein Krokodil gesehen?” Hans-Jürgen überlegt. “Klar haben wir, ..im Zoo”, ruft ihm eine Frau mit Fotoapparat aus der ersten Reihe im Publikum zu. “Ja, im Zoo”, wiederholt Hans-Jürgen und sieht den Fakir erwartungsvoll an. “Gut”, nickt dieser und beugt sich wieder ganz nah zu ihm. “Und, magst du Krokodile?” “Ja...”, nickt Hans-Jürgen. “Aber nur im Zoo.” Der Fakir macht eine Kopfbewegung zu seinem Assistenten im Hintergrund. “Ah, aber hier ist nicht der Zoo”, sagt er dabei. Hans-Jürgen bekommt einen Lachkrampf, sein Doppelkinn setzt sich erneut in Bewegung. Der Assistent reicht dem Fakir eine schwarze Folie. Er hält die Folie ganz dicht an Hans-Jürgens Ohr und entfaltet sie mit einem lauten Knall. Hans-Jürgen zuckt zusammen. Mit einer schnellen Bewegung breitet der Fakir die Folie auf Hans-Jürgens Oberschenkel aus. “Das ist Plastik, siehst du, Hans-Jürgen. Das ist gut, weil ein Krokodil beißt nicht in Plastik”, erklärt er dabei ernst. Hans-Jürgen legt sein feistes Gesicht in Falten. Er fühlt sich nun sichtlich unwohl. Doch bevor er reagieren kann hat der Fakir ein schwarzes Tuch in der Hand und bindet es ihm über die Augen. Der Assistent bringt eine große Holzkiste mit einer laut rasselnden Kette und stellt sie neben Hans-Jürgen ab. Hans-Jürgens Doppelkinn bebt. Der Fakir zieht ein Bonbon aus der Tasche und klemmt es Hans-Jürgen hinter das Ohr. Mit lautem Kettenrasseln öffnet er die Kiste. Ein Raunen geht durch das Publikum. Ein kleiner Affe springt heraus, hüpft auf Hans-Jürgens Schoß und schnappt sich das Bonbon. Der Fakir nimmt Hans-Jürgen die Augenbinde ab, löst die Fesseln. Das Pubilkum gröhlt, Hans-Jürgen klatscht sich begeistert auf seine feisten Oberschenkel. Der Fakir reicht ihm die Hand. “Du bist ein guter Kandidat”, nickt er ihm anerkennend zu. Mit stolzgeschwellter Brust verläßt Hans-Jürgen die Bühne und setzt sich zu der Frau in die erste Reihe. Das Licht erlöscht, die Bühne wird dunkel, ein Spot fällt auf eine stählerne Guillotine. Daneben steht der Assistent. Sein goldener Turban glitzert wie Gold. Er hebt das stählerne Fallbeil hoch und läßt es mit einem lauten metallischen Geräusch fallen. Im Publikum herrscht jetzt atemlose Stille. Ein Trommelwirbel setzt ein. Hinter dem Bühnenvorhang kommt der Fakir zurück. Langsam legt er sich unter die Guillotine, die waagerechte Schneide des Fallbeils drapiert er über seinen Bauch. Die Hände streckt er zur Seite. Der Assistent winkt einen kräftigen jungen Mann aus.dem Publikum auf die Bühne und stellt ihn über den Fakir. “Drück mit beiden Händen auf das Fallbeil, drück so fest du kannst”, befiehlt er. Mit aller Kraft stemmt sich der junge Mann auf das Beil. Die Metallschneide bohrt sich immer tiefer in den Bauch des Fakirs. Das Publikum klatscht begeistert. Dann zieht der Assistent den Mann mit einer schnellen Handbewegung zurück, hält das Fallbeil hoch. Der Fakir springt auf, verbeugt sich. Der Assistent holt ein neues Fallbeil, eines mit einer gebogenen Schneide. Wieder läßt er es mit lautem Knall fallen. Der Fakir konzentriert sich. Er legt sich erneut unter die Guillotine, diesmal plaziert er die Schneide an seinem Hals. Der Assistent geht auf und ab, dann winkt er einen Mann in einem dunklen Anzug auf die Bühne. Der Mann stemmt sich auf das Fallbeil. Das Beil drückt auf den Kehlkopf des Fakirs. Mit einer Handbewegung deutet der Fakir dem Mann an, noch fester zuzurücken. Der Mann wirft sich sich mit aller Kraft auf das Beil, das Metall bohrt sich tiefer und tiefer in den Hals des Fakirs. Das Publikum klatscht Beifall. Der Mann presst die Schneide tiefer in den Hals. Der Assistent gibt dem Mann ein Zeichen. “Stopp!”, schreit er plötzlich hektisch. Er versucht, den Mann wegzureißen, doch wie besessen drückt der die Schneide immer weiter. Das Publikum johlt begeistert. Die metallene Schneide färbt sich langsam rötlich, am Hals des Fakirs rinnen Blutlachen entlang. Er fuchtelt hektisch mit seinen Händen auf und ab. Blut spritzt. Seine Hände sinken kraftlos zu Boden. Ein Blutstrom ergießt sich aus dem Mund des Fakirs. Er zuckt noch einmal kurz auf, dann sinkt sein Kopf zur Seite. Kap.1 Der Sonnenaufgang färbte den hellen Wüstensand glutrot. Wie ein Feuerball erhob sich die Sonne über dem Horizont. Julia stieg aus dem Jeep, lehnte sich gegen die Autotüre und atmete tief ein. “Ist das nicht wunderschön?”, seufzte sie. Caroline stellte sich neben sie und gähnte demonstrativ. “Schon, aber deswegen so früh aufzustehen...” Walter stieg aus dem Wagen und drückte den beiden Frauen ein Glas Champagner in die Hand. “Champagnerfrühstück in der Wüste, ich finde die Idee genial.” Er drehte sich zu dem Fahrer. “He, Mustafa, auch ein Gläschen?” Der Mann am Steuer winkte höflich ab. Walter schlug sich an die Stirn. “Ich vergaß, ihr dürft’ das ja nicht, sorry...” Sebastian ging zu Julia und legte den Arm um sie. “Und schon hast du das erste Motiv für deinen Marokko-Bildband.” Julia lächelte. “So schnell geht das auch wieder nicht. Ich will keine beliebigen Fotos, ich will etwas ganz besonderes, verstehst du. Und bevor ich loslegen kann, muß ich das Land in mir aufnehmen, Eindrücke sammeln...” Sebastian zuckte die Achseln. “Wenn du meinst..” Er leerte sein Glas und streckte es Walter entgegen. “Hast du noch einen Schluck für mich?” “Aber immer!” Walter holte die Champagnerflasche aus der Kühlbox und goß nach. Caroline streckte sich. “Bestimmt gibt es solche Sonnenaufgänge auch auf Video...” Julia stieß sie lachend in die Seite. “Du bist ein unverbesserlicher Banause!” Walter goß sich einen Schluck Champagner nach. “Langsam könnten wir wieder weiterfahren”, schlug er dabei vor. Caroline nickte und kletterte zurück in den Jeep. “Zurück zum Hotel. Ich brauche jetzt einen starken Kaffee. Kommst du, Julia!” Julia nickte, bückte sich und ließ den feinen Wüstensand durch ihre Finger rieseln. Er fühlte sich samtweich an. Dann erhob sie sich, wischte die Hände an ihrer Jeans ab und kletterte zu Caroline in den Jeep. “Alle Mann an Bord?”, rief Walter und schlug Mustafa auf die Schulter. “Wir fahren zurück zum Hotel...” “Nein”, rief Julia und wühlte eine Karte aus ihrer Tasche. “Ich möchte unbedingt noch einen Abstecher in das kleine Berberdorf machen. Vielleicht finde ich dort ein interessantes Motiv.” “Muß das sein?”, murrte Caroline . Julia legte besänftigend den Arm um sie. “Es dauert auch nicht lange, versprochen.” Widerwillig nickte Caroline. “Na gut, wenn es unbedingt sein muß.” Walter zuckte die Achseln, dann gab er dem Fahrer Anweisungen. “Mustafa, du hast gehört, wir fahren zum Berberdorf.” Der Jeep holperte unwegsame Sandstraßen entlang. Caroline kauerte sich in die Ecke und schloß die Augen. “Weckt mich, wenn wir wieder am Hotel sind!”, murmelte sie und zog ihre Jacke bis über die Nase. Sebastian zog sein Handy aus der Jackentasche und überprüfte sein Display. “Kein Empfang”, schimpfte er. “Weltweiten Empfang hat mir der Verkäufer versprochen und jetzt macht das Teil schon in Marokko schlapp.” Walter drehte sich zu ihm um und nahm das Handy aus der Hand. “Laß mal sehen, vermutlich kurven wir in einem Funkloch herum.” Julia lehnte sich gegen die Fensterscheibe und betrachtete die endlose Sandwüste. Ein kräftiger Wind wirbelte die Sandkörner durch die Luft und formte sie zu kleinen Wellen. Julia holte ihren Fotoapparat aus der Tasche und knipste durch die Scheibe. Walter gab Sebastian das Handy zurück. “Nichts zu machen, du bist im Moment eben unerreichbar.” Sebastian klappte das Handy zu und steckte es in seine Jackentasche. “Naja, ich habe meiner Sekretärin gesagt, dass sie mich morgen ab elf auf jeden Fall wieder erreichen kann. Wenn vorher etwas Wichtiges ansteht, schickt sie mir ein Fax ins Hotel.” Er beugte sich zu Julia, strich ihre dichten kastanienbraunen Haare zurück und gab ihr einen Kuß in den Nacken. “Was tut man nicht alles für seine Frau und ihren Bildband....” “Wir sind gleich da”, rief ihnen Mustafa zu und trat auf die Bremse. “Um die Ecke liegt das Berberdorf.” “Prima.” Julia hängte sich ihre Kamera um die Schulter und steckte ein paar Filmrollen in die Jackentasche. Walter lehnte sich in seinem Sitz zurück. “Ich warte im Jeep und trinke lieber noch ein Glas Champagner”. Er warf einen Blick auf Caroline “Bei meiner Frau erübrigt sich die Frage, sie schläft inzwischen tief und fest.” “Was ist mit dir, Sebastian ? Kommst du mit?” , erkundigte sich Julia Sebastian schüttelte den Kopf und zog “Die Zeit” aus der Tasche. “Ich warte hier auf dich. Beeil dich aber, okay” Julia zuckte die Schultern und stieg aus dem Jeep. Mühsam stapfte sie durch Geröll und Sand um die nächste Ecke. Dort blieb sie staunend stehen. Vor ihr bauten sich trutzig wie eine Festung die Felsenlöcher der Berbersiedlung auf. Vor einem großen Brunnen saß eine alte Frau mit verschleiertem Gesicht und backte Brot. Neben ihr spielte ein kleiner Junge Fußball mit einer verschrumpelten Orange. “Wow”, nickte Julia . “Genau so habe ich mir das vorgestellt.” Sie stellte das Stativ auf und machte ihre Kamera drauf fest. Sie band sich ihre Haare zurück und stellte das Objektiv ein. Sie drehte die Kamera im Kreis, um die beste Einstellung zu finden. Auf einmal blieb ihr Blick an einer schwarzgekleideten Gestalt in einem Hauseingang hängen. Julia sah auf. Die dunkle Gestalt bildete einen eindrucksvollen Kontrast zu den hellen Bauten. Julia wischte sich mit dem Handrücken ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie zögerte. Noch besser wäre es, wenn sich die Gestalt umdrehen würde. “He, Sie da!”, rief sie. Die Gestalt reagierte nicht. “Hallo!” Julia näherte sich. “Enschuldigung!”. Endlich drehte sie sich um. Es war ein Mann, auch sein Gesicht war ganz in Schwarz gehüllt, nur seine dunklen Augen blitzten ihr entgegen und sahen sie fragend an. “Entschuldigung”, wiederholte Julia stotternd. “Ich wollte...ich dachte, also, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie für mich einen Moment Modell stehen könnten...” Dann kam ihr ein Gedanke. Sie hielt inne. “Verstehen Sie überhaupt meine Sprache?” Die tiefdunklen Augen sahen sie prüfend an. Julia ging der intensive Blick des Mannes durch und durch. Sie schauderte. Dann nickte der Mann. Er schien zu lächeln, denn um seine seine schönen Augen bildete sich winzig kleine Lachfältchen, dann lehnte er sich gegen den Türrahmen. “Ja, genau so, das ist ist”, stotterte Julia. “Bleiben Sie bitte so.” Sie rannte zurück zu ihrer Kamera und drückte auf den Auslöser. “Super”, schrie sie und machte das Daumen Hoch-Zeichen. “Dan....” wollte sie ihm noch zurufen, doch als sie aufsah, war der geheimnisvolle Fremde verschwunden, der Türrahmen war leer. Julia packte ihre Ausrüstung zusammen und hänget sich ihre Kamera um. Bevor sie ging warf sie noch einen Blick zurück auf die kleine Piazza. Doch die dunkle Gestalt war nicht mehr zu sehen. Walter kam ihr schon wild winkend entgegen. “Da kommt ja endlich unsere Starknipserin.” Er hielt ihr die Jeeptür auf. “Alles einsteigen, dann können wir endlich zurück in die Zivilisation”, er lachte. “ naja, in die Beinahe-Zivilisation..” Nachdenklich stieg Julia ein. Schade, dass der Fremde so schnell verschwunden war, sie hätte sich gerne noch bei ihm bedankt. “Und? Gute Aufnahmen gemacht?”, erkundigte sich Sebastian. “Was? Ja, doch, schon”, entgegnete Julia geistesabwesend. Sebastian legte den Arm um sie und zog sie dicht an sich. “Jetzt machen wir beide uns noch einen gemütlichen Tag”, flüsterte er in ihr Ohr. Kap. 2 Heftiger Regen klaschte gegen die Scheibe, ab und zu zuckte ein Blitz über den finsteren Himmel. Franziska brütete über einem Artikel über Rom für eine Reisezeitschrift. Sie stöhnte, ihr Kopf war heute wie leergefegt. Schließlich ging sie in die Küche und holte sich ein Glas Wein. Das Telefon klingelte. “Ja, hallo?” “Amore mio!” Sie hockte sich mit Wein und Telefon in einen Drehstuhl. “Ciao Giancarlo.” “Hör zu, nächste Woche wäre ein gute Gelegenheit, uns zu sehen. meine Frau fährt in unser Haus nach Amalfi, und ich werde allein in Neapel sein.” Franziska drehte sich auf dem Stuhl um die eigene Achse. “Hört sich gut an.” “Dann also nächste Woche?” “Okay.” “Ich muß los, ich habe eine wichtige Sitzung in Rom. Ich rufe dich spätestens am Wochenende an.” Franziska legte auf und nippte an ihrem Weinglas. Seit gut einem Jahr war sie nun mit Giancarlo zusammen. Naja, zusammen...Er lebte in Neapel mit seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn, sie in Köln. Im Schnitt sahen sie sich alles zwei Monate ein paar Tage. Nicht gerade der Hit, doch im Moment war es für sie ganz okay. Sie hatte keine Lust auf eine feste Beziehung. Giancarlo war Politiker, sie hatten sich in Köln während einer Messe kennengelernt. Franziska drehte eine weitere Runde und erinnerte sich daran, wie sie ihn kennengelernt hatte. Nach seiner Ansprache auf der Messe war er gleich auf sie zugeschossen und hatte ihr seine Visitenkarte überreicht. Monate später hatte sie ihn angerufen. Er hatte sie nach Neapel eingeladen und seit dem waren sie zusammen. Franziska grinste. Die erste Nacht hatten sie dann gleich zu Hause bei ihm in seinem Ehebett verbracht... Das Telefon riß sie aus ihren Gedanken. “Ja, hallo?” “Tante Melli, mir ist so langweilig...” Franziska schmunzelte. Es war Laura, ihre fünfjährige Nichte. “Hey Schätzchen, tja, was könnten wir denn bei dem Wetter anstellen?” “Hm,” Laura überlegte angestrengt. “Wir könnten einkaufen gehen...” “Könnten wir, nur heute ist Samstag und die Läden sind schon alle zu.” “Schade. Dann kommst du zu mir und wir spielen zusammen, oder du liest mir was vor.” “Eigentlich habe ich gar keine Zeit....” “Ach bitte”, bettelte Laura. Franziska mußte grinsen. Das Biest wußte ganz genau, daß sie ihr keinen Gefallen abschlagen konnte. “Also gut, in einer halben Stunde bin ich bei euch.” “Okay”, sagte Laura zufrieden und legte auf. Laura öffnete die Tür, ihre himmelblauen Augen blitzten. In einer Hand hielt sie ein Bilderbuch, in der anderen eine Barbiepuppe. “Du kannst wählen, Melli, liest du mir was vor, oder spielest du mit mir Barbie?” Franziska kniete sich neben Laura und legte die Stirn in Falten. “Mal sehen....” Im diesem Moment öffnete sich hinter ihr die Tür und einen Horde Kinder rannte mit wildem Indianergeheul ins Haus. Laura ließ ihre Spielsachen fallen und lief ihnen hinterher. “Tja, da bin ich dann wohl überflüssig”, Franziska erhob sich. Franziskas Schwester Ina kam aus der Küche und grinste-. “Schätze, du hast nochmal Glück gehabt” “Ich seh’s ein, mit einer Horde Indianer kann ich nicht konkurieren”. Franziska nahm die Türklinke in die Hand. “Außerdem habe ich sowieso Arbeit ohne Ende. Und tschüss....” “Ach, warte mal, Franziska. Könntest du Laura nächsten Mittwoch vom Kindergarten abholen? Ich muss dringend zum Arzt.” “Nächsten Mittwoch?” Franziska überlegte. “Sorry, wird wohl nichts, ich bin nächste Woche in Italien.” “Aha”, machte Ina. “Bei deinem Lover.” “Genau.” “Mann; Franziska, wie lange willst du eigentlich noch so weitermachen?” Franziska sah ihre Schwester erstaunt an. “Wie meinst du das?” “Naja, der Typ ist schließlich verheiratet, hat ein Kind, lebt in Italien. Warum suchst du dir nicht mal einen richtigen Partner. Einen, der nur für dich da ist, der heir lebt. Ohne, dass du jedesmal in der Welt rumjetten musst, um ihn zu treffen.” Franziska lehnte den Kopf gegen die Tür. “Geht das schon wieder los. Ich dachte, das Thema wäre durch. Klar, die Situation ist nicht optimal, aber was soll ich denn tun? Den nächstbesten auf der Straße schnappen, nur weil der hier wohnt.” “Nein, natürlich nicht, aber es ist einfach so schade, auch wegen Laura...” Franziska schnaufte tief durch. “Damit kann ich nicht dienen, sorry, Schwesterherz.” Sie zog die Tür hinter sich zu . Ich ruf dich an, ciao.” kap. 3 Caroline, Walter und Sebastian dösten auf Liegenstühlen am Pool in der Sonne. Caroline seufzte, drehte sich auf den Bauch und strich ihre langen schwarzen Haare zur Seite. “Schatz, cremst du mir bitte den Rücken ein”, murmelte sie in ihr Handtuch. Walter hockte sich auf und zog die Sonnencreme aus der Badetasche. Er zog eine lange Spur auf ihrem Rücken und verrieb sie sorgfältig. “Du bist schon krebsrot, morgen solltest du dich besser mal in den Schatten legen, meine Liebe.” “Von wegen, morgen ist unser letzter Tag, da muß ich noch Bräune tanken. Wer weiß, wie das Wetter zuhause ist.” Sebastian richtete sich auf und zog die Bildzeitung unter der Liege hervor. “Moment, das kann ich euch sofort sagen.” Walter warf ihm einen erstaunten Blick zu. “Seit wann liest du denn die Bild-Zeitung?” Sebastian zuckte die Schultern und blätterte die Zeitung auf. “Ist nun mal die aktuelleste hier. Also, mal sehen.. ...hm, Caro hat Recht: Köln, veränderlich mit Regenschauern, 15 Grad.” “Tolle Aussichten”, murmelte Caro und zog sich die Sonnenbrille über die Augen. “Seht mal, wer da kommt....” Sebastian sah auf. “He Julia.” Julia trug einen knappen Aerobic-Dress und lehnte sich über Sebastians Liegestuhllehne. “Hallo ihr Faulpelze.” “Faulpelze...”, prustete Caro entrüstet. “ Aerobic bei der Hitze, das kann auch nur dir einfallen.” “Die Terrasse ist überdacht, los, raff dich auf!” Caro winkte ab. “ Nein danke, ich dreh lieber nachher noch eine Runde im Pool.” Julia zuckte die Schultern. “Wenn du meinst....” Ahmed, der Animateur, kam an ihrer Liegestuhlreihe vorbei. Er klopfte Julia freundschaftlich auf die Schulter. “Hi Julia, alles klar?” Julia sah ihn an “Tja, schätze, ich bin mal wieder die einzige, die mitmacht.” Ahmed beugte sich zu Caro und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. “Caro, nicht so faul, komm schon, raff dich auf.” Caro winkte mit einem charmanten Lächeln ab, schob die Sonnenbrille zurück und streckte sich auf ihrem Liegestuhl aus. Achmed eilte zur Terrasse und schnappte sich das Mikrophon. “Einen wunderschönen Nachmittag, mesdames et monsieurs, wir starten gleich mit unserem Fitnessprogramm, Treffpunkt jetzt gleich auf der Terrasse, danach Wasserball mit Yussuf. Und heute Abend haben wir ein tolles Showprogramm für sie. Nach der Minidisko startet unsere sensationelle Fakir-Show in der Diskothek.” Caro sah auf. “Fakir-Show, klingt gut, die will ich sehen!” “Hast du auch Lust, Schatz?”, nuschelte Sebastian in seine Zeitung. “Eher nicht, mir ist heute nicht nach so einem Touristen-Spektakel.” Julia machte sich los und joggte zur Terrasse. Sebastian knüllte die Zeitung zusammen und erhob sich. “Ich brauch jetzt einen Kaffee, kommst du mit, Walter?” Die beiden gingen Richtung Bar und ließen sich an einem Tisch mit Blick auf die Aerobicterrasse nieder. “Topfit, deine Frau!”, nickte Walter anerkennend mit Blick auf Julia. Er grinste. “Meine Caro ist da eher etwas gemütlich.” Sebastian rührte Zucker in seinen Kaffee. “Manchmal würde ich mir das bei Julia auch wünschen. Sie hat so viele Interessen, und dazu noch ihren Job. Viel Zeit für uns bleibt da nicht.” Er nahm die Tasse hoch und betrachtete die weißen Schaumschlieren auf dem schwarzen Kaffee. “Aber das wird sich wohl bald ändern.” Walter sah ihn erstaunt an. “Wie meinst du denn das?” “Naja, es wird langsam Zeit für ein Kind.” “Zu früh wäre es bestimmt nicht. Wie lange seid ihr jetzt schon zusammen?” Sebastian stellte seine Tasse wieder ab. “Über zehn Jahre.” Walter leerte seinen Kaffee und sah auf die Uhr. “Mir reicht’s für heute. Ich gehe hoch. Was ist, sollen wir bei euch klopfen, bevor wir in die Show gehen? So gegen zehn?” Sebastian erhob sich. “Klar, ich bin auf jeden Fall dabei.” Punkt zehn Uhr standen Walter und Caroline vor Zimmer 663. Walter klopfte, Julia streckte unfrisiert und im Morgenmantel den Kopf aus dem Zimmer. Caro runzelte die Stirn “He, du bist ja noch gar nicht angezogen.” Julia legte den Kopf gegen den Türrahmen. “Ich habe Kopfschmerzen, geht ohne mich.” “Ach komm, ich freu mich schon so auf die Show. So ein echter Fakir, wann sieht man das schon..” Hinter Julia erschien Sebastian. “Hoffentlich ist es auch ein echter Fakir und nicht ein verkleideter Animateur.” Er schob sich an Julia vorbei und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. “Bis später, Schatz.” “Hm”, murmelte Julia. “Ach, Caro, du siehst übrigens toll aus.” “In ihrem Sari könnte sie glatt dem Fakir assistieren”, grinste Walter und legte den Arm um sie. “Viel Spaß, ihr drei!”, Julia schloß die Tür und ging auf den Balkon. Der Himmel war sternenklar, die Sterne funkelten wie Diamanten. Das Meer bewegte sich sanft in kleinen Bewegungen. Julia lehnte sich an die Brüstung und neigte ihren Kopf abwechselnd von links nach rechts, um die Verspannungen in ihrem Nacken zu lösen. Sie fühlte sich unruhig, angespannt. Sie warf sich auf das Bett und versuchte, in der ‘Marie Claire’ zu lesen, doch es gelang ihr nicht, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren. Sie sah auf die Uhr. Halb elf. Sie ging ins Badezimmer. Kurzentschlossen legte sie etwas Mascara und Lippenstift auf, tauschte den Morgenmantel mit einem schlichten schwarzen Kleid und ging in die Diskothek. Neben dem Eingang stand ein uralter Transporter, bemalt mit einem großen ‘Z’, Affenköpfen und Schlangen. Innen war es voll, die Show hatte offenbar bereits begonnen. Julia drängelte sich zu einem der Gänge, die zur Tanzfläche führen. Alle Augen waren auf die Tanzfläche gerichtet. Dort stand der Fakir. Er trug eine schwarze Hose im indischen Stil und schwarze Stiefel.. Sein durchtrainierter, gebräunter Oberkörper war nackt. Eng um seinen Hals hatte er mehrere Lederbänder mit Perlen und Steinen geknotet. Mit einem schnellen Handgriff band er sein langes dunkles Haar im Nacken zusammen. Es roch nach Rauch und Feuer. Julia drückte sich gegen eine Säule. Wie gebannt starrte sie auf die Tanzfläche. Der Fakir bewegte sich geschmeidig wie eine Schlange zu der Musik, dann reichte ihm ein Assistent eine Flasche. Er setzte an und nahm einen großen Schluck. Ein zweiter Assistent reichte ihm zwei Fackeln, die er mit schnellen Bewegungen durch die Luft wirbelte. Immer wieder entzündete sich eine gewaltige Flamme vor seinem Mund. Julia beobachtete die Show wie hypnotisiert. Sie spürte die Hitze des Feuers mit jeder Faser ihres Körpers. Der gewaltige Applaus des Publikums riß sie aus ihrer Trance. Der Fakir verbeugte sich und verschwand dann hinter der Bühne. Ahmed, der Animateur, erschien und bedankte sich bei den beiden Assistenten. “Und jetzt bitte noch einmal einen großen Applaus für den Meister, Miro!” Der Fakir kam zurück und verneigte sich. Er trug jetzt ein mit Goldfäden durchwirktes Kostüm, um seine langen Haare hatte er ein goldenes Kopftuch gebunden. Nach einer weiteren kurzen Verbeugung verschwand er wieder hinter der Bühne. Die meisten Zuschauer standen auf und drängten Richtung Ausgang. Julia lehnte immer noch regungslos an der Säule. Sie wollte weggehen, sich bewegen, doch sie konnte nicht. Nach ein paar Minuten eilten die Assistenten des Fakir an ihr vorbei. Sie schleppten große Holzkisten nach draußen. Auf einmal kam der Fakir. Er eilte ziestrebig durch die Menge. Als er bei ihr vorbeiging, blieb er den Bruchteil einer Sekunde stehen und sah ihr tief in die Augen. Er sah sie an, als würde er sie kennen. Julia erwiderte verwirrt seinen Blick. Plötzlich wußte auch sie, dass sie ihn kannte. Aber woher? Der Fakir nahm das Ende seines Kopftuches und hielt es vor sein Gesicht, dann eilte er hinaus. Julias Knie begannen zu zittern, ein Schauer lief über ihren Rücken. Der Fakir war der Fremde aus dem Berberdorf. “Hallo, Julia, jemand zuhause?” Julia fuhr herum. “Wie?” Neben ihr stand Caro und wedelte mit der Hand vor ihren Augen. “He, Schätzchen, ist dir ein Außerirdischer über den Weg gelaufen?” Sie packte sie am Arm und zog sie mit sich. “Komm schon, wir sitzen da hinten in der Ecke.” Willenlos ließ sich Julia mitziehen. Sie ließ sich von Caro in einen Sessel neben Sebastian drücken. Sebastian nahm ihre Hand. “Geht’s dir besser?” “Wie?” Julia sah ihn an wie einen Geist. “Na, dein Kopf, du bist immer noch kreidebleich...” Julia gab sich einen Ruck. “Ja, doch, schon wieder besser.” Sebastian hielt ihr sein Glas hin. “Trink einen Schluck Champagner.” Julia leerte das Glas in einem Zug. “Besser”, nickte sie. Sebastian strich ihr zärtlich über die Haare. “Wie fandest du die Show?” “Die Show? Ich weiß nicht, ich habe nur noch das Ende gesehen.” “Die Show war gut, aber mir war das Ganze eine Nummer zu martialisch”, warf Walter ein. Caro beugte sich zu Julia, “Hast du die Feuer-Show ganz gesehen?” Julia nickte. “Interessanter Typ.” “Wer?” “Na, der Fakir natürlich, der hat was....” Julia nickte erneut. “Ach was, welche Frau fällt heute noch auf dieses arrogante Machogehabe herein”, mischte sich Sebastian ein, legte den Arm um Julia und zog sie an sich. “Was hälst du davon, wenn wir ins Zimmer gehen und es uns noch etwas gemütlich machen?”, flüsterte er in ihr Ohr. Julia schob ihn vorsichtig weg. “Heute nicht. Mein Kopf tut noch weh, außerdem müssen wir morgen früh aufstehen. Um sieben Uhr müssen wir am Flughafen sein.” Sebastian gab ihr einen Kuß auf die Wange. “Wie du willst, Liebes.” Julia verbrachte eine unruhige Nacht. Sie wälzte sich hin und her, schreckte immer wieder schweißgebadet auf. Sie war erleichtert, als der Wecker endlich klingelte. Während Sebastian und Walter an der Rezeption die Rechnungen beglichen, tranken Julia und Caro noch einen Cappuccino an der Hotelbar. “Es war ein schöner Urlaub”, befand Caro. “Ja”, nickte Julia und rührte in ihrem Cappuccino. “Wie immer viel zu kurz.” “Ich bin froh, dass Sebastian überhaupt mal eine Woche wegkonnte,” “Stimmt”, nickte Caro. “Bei Walter sieht’s ähnlich aus.” Walter kam zu ihnen an die Bar. “Ladies, unser Taxi ist da!” An der Hoteltür kam ihnen Ahmed entgegen. Er streckte Sebastian die Hand entgegen. “Ich möchte mich für das großzügige Trinkgeld bedanken, auch im Namen meines Teams!” Sebastian schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. “Dafür hättest du doch nicht so früh austehen müssen, Kumpel.” Ahmed streckte auch Walter die Hand entgegen. “Danke.” “Los, Leute, rein ins Taxi!”, dirigierte Sebastian. Er setzte sich neben den Taxifahrer, Caro schlüpfte in die Hintertür, Walter folgte ihr. “Gute Reise”, winkte ihnen Ahmed zu und verschwand in der Hotellobby. Julia hielt die Taxitür in der Hand. Sie sah Ahmed nach, zögerte einen Moment, dann spurtete sie los. Sie packte Ahmed an der Schulter. “Entschuldige, tust du mir bitte einen Gefallen?” Ahmed sah sie erstaunt an. Julia kramte in ihrer Handtasche und zog ihre Visitenkarte heraus. “Gibst du die bitte dem Fakir?” “Ich verstehe nicht?” “Die Vistenkarte. Gib sie dem Fakir, bitte!” Sie zog einen zehn-Dinar-Schein aus ihrem Geldbeutel und drückte ihn Ahmed in die Hand. Ahmed zuckte die Achseln. “In Ordnung, ich gebe sie ihm.” Julia drehte sich wortlos um und raste zurück zum Taxi. kap. 4 Giancarlo wartete schon in der Ankunftshalle des Flughafens. Franziska winkte ihm zu und schob mit ihrem Kofferkuli in seine Richtung. “Hallo, Giancarlo!” “Ciao amore, endlich! Willkommen zurück in Napoli.” Giancarlo legte den Arm um ihre Schulter und nahm ihr das Gepäck ab. “Wie war dein Flug?” “Etwas turbulent, ich hasse das Fliegen. ” “Tut mir leid, wenn es mein Job zuläßt, komme ich das nächste Mal wieder zu dir nach Köln, dann ersparst du dir den anstrengenden Trip.” Giancarlo hielt vor seinem silbergrauen Alpha und lud ihr Gepäck ein. Franziska zog ihre Sonnenbrille aus der Handtasche. “Schon okay, zumindest solange das Wetter hier so traumhaft ist.” Giancarlo hielt ihr die Autotür auf. “Und, was hast du diesmal geplant?”, fragte Franziska erwartungsvoll. Giancarlo setzte den Wagen in Bewegung. “Ich dachte an Capri? Wie wärs?” Franziska drehte die Autoscheibe runter und lehnte sich zurück. “Klar, super.” Giancarlo nahm ihre Hand und drückte sie. “Schön dich zu sehen.” Franziska lächelte. “Ich freu mich auch.” Giancarlo bog auf die Autobahn. “Wir sollten uns viel öfter sehen.” “Tja, an mir liegts nicht. A propos, wo ist eigentlich deine Frau?” “In unserem Haus in Rom. Hab noch etwas Geduld, Franziska. Es ist nur eine Frage der Zeit. Du weißt doch, daß ich mir im Moment keinen Skandal leisten kann. Aber in ein paar Monaten sieht vielleicht alles ganz anders aus...” Franziska legte die Hand auf seinen Oberschenkel. “Stopp, Giancarlo. Es ist ok so, wie es ist. Wir sollten nichts übereilen. Laß uns einfach die paar Tage zusammen genießen. ” Giancarlo steuerte den Wagen von der Autobahn, bog in eine Seitengasse ein und hielt vor einem Restaurant. .”Ich hab uns hier einen Tisch reserviert. Zur Zeit eines der besten Lokale in Italien.” Giancarlo ging vor und hielt ihr die Tür auf. “Wow!” Franziska sah sich staunend um. “Irrer Laden” Der Kellner führte sie zu einem Tisch. “Für dich nur das beste”, raunte Giancarlo ihr zu und setzte sich. “Na. worauf hast du Lust? Pasta? Fisch, Wild?” “Bestell du, du weißt genau, was mir schmeckt.” “Also Piero, dann als antipasto carpaccio vom Schwertfisch, danach pasta mit Trüffel, aber mit dem weißen aus Alba, bitte, dann eine bistecca fiorentina und dann...naja, später.” “Gerne, signore!”Piero entfernte sich und kam nach ein paar Minuten mit zwei Gläsern Champagner zurück. Giancarlo hob das Glas. “Auf dich.” “Danke.” Franziska nahm einen großen Schluck, dann gleich noch einen zweiten. Sie spürte wie der Champagner durch ihren Körper perlte und fühlte sich mit jedem Schluck leichter und beschwingter. “Erzähl mal, was macht so deine Karriere?” “Zur Zeit bin ich sehr beschäftigt. Aber das ist gut so.” Giancarlos bernsteinfarbene Augen blitzten. “Ich bin in der engeren Wahl für einen Posten im Parteivorstand.” Franziska hob das Glas. “Freut mich.Das wolltest du doch immer.” Giancarlo rieb sich die Hände. “Es läuft alles ziemlich gut. Und bei dir?” Piero brachte den Schwertfisch und träufelte goldgelbes Olivenöl darüber. “Auch alles ok. Mhm, sieht ja köstlich aus. Und heute abend auf Capri gehts weiter mit frischem Fisch....” “Heute abend noch nicht”, unterbrach sie Giancarlo. “Wieso nicht?” “Ich habe morgen früh noch eine wichtige Sitzung in Neapel, wir müssen also diese Nacht noch in der Stadt bleiben, aber anschließend fahren wir gleich weiter nach Capri.” Piero servierte die Nudeln und rieb sorgsam den Trüffel darüber. “Mhmmm”, schnupperte Giancarlo. “Riecht köstlich.” “Stimmt”, nickte Franziska. Sie nahm einen Schluck Champagner. Ihre gute Laune war etwas getrübt. In Neapel bleiben bedeutete, sie würden bei Giancarlo übernachten. In Giancarlos Ehebett. Mit dem silbergerahmten Hochzeitsbild von Giancarlo und seiner Frau Maria auf dem Nachttisch. Mit dem Spielzeug seines kleinen Sohnes im Wohnzimmer. “Der Trüffel ist exzellent”, lobte Giancarlo. “Du isst ja gar nicht, hast du keinen Hunger?” “Doch, doch”, beeilte sich Franziska zu sagen und ringelte die Nudeln auf die Gabel. Plötzlich stand ein junger Mann im dunklen Anzug mit Sonnenbrille in den gegeelten Haaren neben ihrem Tisch. “Signore Pirilli?” Giancarlo sah auf. “Ja, bitte? Was kann ich für sie tun?” Der junge Mann lächelte Giancarlo an. “Ich bewundere ihre Arbeit. Sie tun sehr viel gutes für uns und unsere Region.” Giancarlo strahlte. “Danke, nett, daß sie das sagen. ” “Mein Vater auch, er bewundert sie genau wie ich.” “Freut mich. Aber, wenn sie mich nun entschuldigen, die pasta wird kalt. “ Giancarlo griff in seine Anzugtasche. “Hier, meine Visitenkarte. Wenn sie einen Termin mit meiner Sekretärin vereinbaren, können wir uns gerne weiterunterhalten.” Der junge Mann nahm die Sonnenbrille aus seinen Haaren und spielte mit dem Bügel. “Bestimmt werden wir kommen. Mein Vater und ich.” Giancarlo nahm demonstrativ seine Gabel in die Hand.“Gut. Arrivederci und grüßen sie ihren Vater unbekannterweise von mir.” “Unbekannterweise? Sie kennen ihn.” “Ach ja?” Franziska sah erstaunt von einem zum anderen. Der junge Mann nickte. “Ja. Ich sage nur ‘Cliento’..” Giancarlo ließ seine Gabel wieder sinken. “Ah ja, ich erinnere mich.” “Tja dann, bis bald”. Der junge Mann wollte gerade gehen. Dann hielt er einen Moment inne und warf einen Blick auf Franziska. “Ach, und viele Grüße auch an ihre Frau Gemahlin, Herr Abgeordneter.” Franziska sah dem Mann hinterher. “Was war denn das für ein Auftritt?” Piero räumte die Teller mit der Pasta zur Seite und servierte die bistecca fiorentina. .“Hatte keinerlei Bedeutung. Laß es dir schmecken.”, sagte Giancarlo betont gleichgültig, doch gleichzeitig drückte er sein Messer so tief in das Stück Fleisch, als wollte er ihm Gewalt antun. “Und was bedeutet dieses Cliento?”, bohrte Franziska nach. Giancarlo legte Messer und Gabel zur Seite und nahm ihre Hand. “Völlig unwichtig. Entschuldige bitte den kleinen Zwischenfall, jetzt konzentrieren wir uns wieder auf uns und auf das gute Essen.” Kap. 4 “Miro, kannst du mich hören? Ich bin es, Tarek, Miro!” Tarek zieht den blutverschmierten Ärmel seines Kostüms zurück und beugt sich über Miros Gesicht. “Miro, bitte!”, stammelt er verzweifelt. Tarek spürt, wie ihm die Tränen in die Augen schiessen. Es tat weh, den Menschen, den er am meisten bewunderte, so zu sehen. Sein Hals dick eingebunden, an mehrere Geräte angeschlossen, ein Monitor kontrolliert seinen Herzschlag. In seiner linken Armbeuge steckt eine große Injektionskanüle, von der zwei Schläuche zu Tropfbeuteln führen. Mit dem rechten Arm hängt er an einer Bluttransfusion. Auf einmal öffnen sich seine Augen ein wenig. Plötzlich scheint er in Panik zu geraten, sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz, Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Er beginnt zu röcheln, und nach Luft zu ringen. Der Piepston auf dem Herzschlagmonitor wird unregelmäßig, ein rotes Lämpchen blinkt an der Atemfrequenzkontrolle auf, einer der Apparate gibt ein lautes Alarmsignal von sich. Tarek schreckt hoch und drückt sich an die Wand. Ein junger Arzt und eine Krankenschwester eilen ins Zimmer, der Arzt legt ihm die Sauerstoffmaske an und stellt das Beatmungsgerät ein. Der Krankenschwester gibt er die Anweisung, die Tropfdosis zu erhöhen und ihm eine Beruhigungsinjektion zu geben. Langsam beginnt sich sein Zustand wieder zu stabilisieren. Vorsichtig tupft die Schwester sein schweißüberströmtes Gesicht ab. Der Arzt kontrolliert erneut die Werte an den Geräten. Tarek wagt sich einen Schritt nach vorne. “Wie geht es ihm?” Der Arzt wirft ihm einen erstaunten Blick zu. “Was machen denn sie hier?” “Ich, ich habe mich ins Zimmer geschlichen, ich mußte ihn einfach sehen.” Der Arzt faßt ihn väterlich an der Schulter und schiebt ihn aus dem Zimmer. “Eine Atmungsgschwäche, aber wir haben das schon wieder unter Kontrolle”, sagt er beruhigend. Die Schwester verlässt den Raum. “Herr Doktor....wird er....wird er durchkommen?” Der Arzt zuckt die Schulter. “Es ist zu früh, wir können noch nichts Genaues sagen. Er hat eine lebensgefährliche Verletzung an der Luftröhre und einen enormen Blutverlust. Wir müssen die Nacht abwarten, dann sehen wir weiter. Die dreistündige Operation hat er einigermaßen überstanden, aber sein Zustand ist nach wie vor kritisch, aber dass er bis jetzt durchgehalten hat, ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Er ist sehr zäh.” “Miro ist Fakir”, sagt Tarek stolz. “Ich weiß, ich arbeite noch nicht lange in der Notaufnahme in Makida, sonst würde ich ihn sicher kennen.” Tarek strahlt. “Miro ist der Beste.” “Und du bist sein Assistent, wenn ich das richtig verstanden habe?” Tarek nickt. “Wurde seine Familie benachrichtigt?” Tarek nickt erneut. “Es kann aber noch dauern, bis sie kommen, sie sind auf einem Fest im Landesinneren. Die anderen Assistenten sind hingefahren, um sie zu holen.” Der Arzt nickt. “Darf ich nochmal zu ihm, bitte?” “Hm...”, der Arzt überlegt. “Normalerweise dürfen nur Familienangehörige zum Patienten...” “Miro ist wie mein Bruder....”unterbricht ihn Tarek aufgeregt. “Na gut, dann mache ich eine Ausnahme.” Er öffnet die Tür zu Miros Zimmer. “Aber er darf sich auf keinen Fall aufregen, hörst du.!” Tarek zieht einen Stuhl heran und setzt sich neben das Bett. Er beugt sich dicht über Miros Gesicht. “Ich bin es, Tarek. Ich bleibe bei dir, bis du wieder aufwachst”, flüstert er. “Ich laß dich nicht allein.” Für einen kleinen Moment öffnet Miro die Augen ein wenig. Er kann kaum etwas erkennen, alles war verschwommen. “Miro, hörst du mich! Miro!” Der Fakir hört seinen Namen. Er fühlt sich, wie in Watte gepackt. Die Stimme wird langsam heller, Bilder tauchen auf. Es ist seine Mutter, die ihn ruft. Sie ist jung und hübsch. Und er selbst ist ein kleiner Junge. Wo war er? Auf einer Hochzeit, der Hochzeit seiner ältesten Schwester. Ja, er erkannte sie. Leila war wunderschön in ihrem prächtigen Berberkleid und dem üppigen Goldschmuck. Er hockte auf der Erde und hielt eine Glühbirne in der Hand. Mit einem großen Stein zerlegte er das Glas in kleine Stücke. “Miro, paß auf! Du wirst dir noch die Finger zerschneiden!”, mahnte ihn seine Mutter. “Laß ihn doch”, ertönte eine andere Stimme. Es war sein Vater. “Er wird es schon selbst merken.” Miro nahm eine kleine Glascheibe und hielt sie gegen die Sonne. Sie leuchtete hellgrün. Er holte tief Luft, dann steckte er sie in den Mund. Mit seinen kräftigen Zähnen zermalmte er sorgsam das Glas. Fein wie Sand. Dann schluckte er die Ladung hinunter. Er schloß die Augen und fühlte, wie das zerkaute Glas seine Speiseröhre entlangglitt. Es kitzelte ein wenig. Er öffnete die Augen. Alles war noch wie vorhin. Seine Mutter lud seinem Vater gerade eine kräftige Portion Couscous auf den Teller, Leila kuschelte sich an ihren frischgebackenen Ehemann, die anderen Gäste tanzte und lachten. Miro stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Er wanderte die Tische entlang, von einem Gast zum anderen. Sein Bruder Hussan nahm ihn zur Seite und zündete ein Feuerzeug unter seiner Nase. Hussan liebte es, ihn zu necken, wenn er betrunken war, und Hussan war oft betrunken. Miro ließ die Flamme ganz nah an sein Gesicht. Er konzentrierte sich. Das Feuer fühlte sich nicht mehr heiß an. Hussun wedelte mit dem Feuerzeug auf und ab. “Laß das!” Sein Vater fuhr Hussun an und unterbrach das Spiel. “Es macht ihm nichts aus!”, verteidigte sich Hussan. “Es tut nicht weh”, verteidigte sich Miro. “Ich kann das Feuer wegzaubern.” Hussan fuhr ihm durch die dichten dunklen Haare. “Ja, Vater, Miro kann zaubern.” Der Vater packte die Flasche Wein, die vor Hussan auf dem Tisch stand. “Und du kannst jetzt besser aufhören zu trinken. Miro, geh spielen.” Miro streunte über den Platz. Die anderen Jungs und Mädchen in seinem Alter spielten mit Murmeln oder hielten sich an den Händen und tanzten. Das langweilte ihn. Ich werde Großtante Samira einen Besuch abstatten, beschloß er dann. Er ging zu einem alten Haus aus Stein und klopfte an die schwere Holztür. Er klopfte und klopfte und klopfte und plötzlich wurde es wieder dunkel um ihn. Kap. 5 Julia jagte die Treppe zu ihrem Büro hinauf. Sie war spät, wie immer. Mit einer Hand drückte sie die Glastür auf. Gina sah von ihrem Schreibtisch auf. “Da bist du ja endlich, die Chefredakteurin von Travaller News hat schon zweimal angerufen.” Julia warf ihre Tasche auf einen Sessel, kramte einen Haargummi heraus und band ihre wirren Haare zusammen. “Ich habe verschlafen!” Gina klopfte mit dem Stift auf den Schreibtisch. “Sie war ziemlich sauer.” “Ich rufe sie gleich zurück.” “Aber vor elf Uhr, sonst will sie das Toscana-Shooting an einen anderen Fotografen geben.” “Jaja”, murmelte Julia und griff sich einen Bogen Abzüge, die auf dem Tisch lagen. “Ach, und in ein zwanzig Minuten kommt dieser Promi-Zahnarzt mit seinen beiden afghanischen Windhunden.” Julia legte die Fotos zurück. “Oje, den hätte ich beinahe vergessen. Aber jetzt brauch ich erst mal einen Kaffee, sonst schaffe ich nicht einmal ein Paßfoto. Und Gina, könntest du mir bitte zwei Croissants aus der Bäckerei holen?” Gina holte eine Tasse Kaffee aus der kleinen Kochnische, nahm ein paar Mark aus der Kasse und ging zur Tür. “Ach, Julia, bevor ich’s vergesse, vorhin hat so ein Typ aus Marokko angerufen, ein Fakir, keine Ahnung, was der wollte. Ich habe dir die Nummer notiert, sie liegt auf meinen Schreibtisch. Bin gleich wieder zurück.” Julia starrte auf die Glastür, hinter der Gina verschwand. Ihr Herz schlug schneller. Hastig ging sie zu Ginas Schreibtisch. “Fakir, Marokko, Tel 00216976340589.” Julia sah zum Telefon, sie nahm den Hörer, hielt inne, legte wieder auf. Sie knüllte den Zettel in ihrer Hand zusammen. Nein, sie wird nicht anrufen. Wieso auch? Sie sollte den Zettel einfach wegwerfen, in den Papierkorb, vernichten, dann wäre die Sache erledigt. Welche Sache denn? In Gedanken sah sie den Fakir vor sich. Seine dunklen Augen, seinen geschmeidigen Körper. Ihr Herz schlug noch ein paar Takte schneller. “Guten Morgen!” Julia schreckte auf. Durch die Glastür kam ein Mann im dunklen Anzug mit zwei großen Hunden. “Oh, guten Morgen, Herr Reichart, ich habe sie gar nicht gehört!” Julia ließ den Zettel in die Tasche ihres Blazers gleiten. Sie strich einem der Hunde über das seidig glatte Fell. “Schöne Tiere!” “Danke!”, nickte der Mann stolz. “Das werden gute Fotos”, nickte Julia. Nach dem Shooting griff Julia entschlossen zum Telefon. “Franziska, wir müssen uns sehen!” Die Stimme ihrer Freundin am anderen Ende der Leitung klang nicht besonders erfreut. “Du, ich habe im Moment viel zu tun, ich bin gerade erst aus Neapel zurück...” “Es ist dringend.” “Hat das nicht noch etwas Zeit?” “Nein, es geht um unseren Urlaub in Marokko.” “Ja, und?” “Nicht am Telefon.” Julia sah auf die Uhr. “Können wir uns einer halben Stunde im Eiscafe’ treffen?” Franziska seufzte. “Na gut, bis dann.” Nachdenklich legte sie den Hörer auf. Julia hatte mit Sebastian und ihrer Freundin, der arroganten Caro Urlaub in Marokko gemacht, was gab es da wohl so Spannendes zu erzählen? Julia saß schon vor einem Cappuccino und wartete. Nervös fummelte sie an dem Zuckerpäckchen herum. Sie sprang auf und umarmte Franziska. “Schön, dass du gekommen bist.” Franziska orderte einen espresso. “Ich platze vor Spannung, erzähl schon.” Julia senkte geheimnisvoll die Stimme. “Ich habe jemanden kennengelernt.” “Wie?” Franziska sah die Freundin mit großen Augen an. Julia schnaufte tief durch. “Kennengelernt ist übertrieben. Ich glaube, mich hat’s total erwischt.” “Wie bitte?”, wiederholte Franziska fassungslos. Julia packte sich wieder das Zuckerpäckchen. “Also, ich habe Fotos in einem Berberdorf geschossen, du weißt schon, für meinen Fotoband. Und da stand er ganz plötzlich vor meiner Linse. Ich habe in seine dunklen, geheimnisvollen Augen gesehen und zack, bumm, es war um mich geschehen. Es war wie ein unerklärlicher Zauber, wie Magie....” “Und? Weiter, was dann.....” “Am letzten Abend war Fakirshow in unserer Hoteldiskothek. Und du errätst nie, wer der Fakir war.” “Nein!” “Doch. Er. Nach der Show ging er ganz dicht an mir vorbei und sah mir wieder in die Augen.” Julia legte die Hand auf Franziskas Arm. “Mir zitterten die Knie, ich kam mir vor wie fünfzehn, es war einfach unglaublich.” “Oje, oje”, stöhnte Franziska. “Am nächsten Morgen war Abreise angesagt. Ich schwöre dir, ich weiß nicht mehr, was mich geritten hat, aber ich bin im letzten Moment aus dem Taxi gesprungen und habe einen Animateur gebeten, dem Fakir meine Visitenkarte zu geben.” “Nein!” “Und was meinst du, wer eben angerufen hat?” “Er?” “Er”, nickte Julia. “Gina war am Telefon. Sie hat seine Nummer aufgeschrieben.” Julia wühlte in ihrer Blazertasche und zog einen zerknüllten Zetter hervor. “Hier ist sie, die Nummer des Fakir.” Franziska schüttelte den Kopf. “Du willst doch nicht etwa zurückrufen?” Julia seufzte. “Keine Ahnung.” Franziska sah sie eindringlich an. “Das kannst du nicht machen!” Julia nippte an ihrem Cappuccino. “Schätze, ich habe keine andere Wahl.” “Du spinnst!” Julia stellte die Tasse ab. “Nur mal kurz zurückrufen, nichts weiter, da ist doch nichts dabei.” “Natürlich nicht!”, machte Franziska ironisch. “Unsere Begegnung war so, so romantisch, so, ach ich weiß auch nicht...” “Und Sebastian?” Naja winkte ab. “Er hat natürlich nichts davon mitbekommen, du kennst ihn ja mit seiner stoischen Ruhe. Sebastian ist mein Mann, ich mag ihn, wir kommen gut miteinander klar, haben keine Probleme.” Franziska packte Julia am Arm. “Tu es nicht, ruf diesen Typen nicht zurück, wirf die Telefonnummer weg, bitte, ich habe kein gutes Gefühl dabei!” Julia sah die Freundin nachdenklich an und leerte ihren Cappuccino Nach dem Treffen mit Franziska schlenderte Julia durch die Fußgängerzone. Sie hatte keine Lust, nach Hause zu fahren. Bei Douglas entdeckte sie einen Flakon "Chanel Nr. 5" in der Vitrine. Das war mal ihr Lieblingsduft. Vor ein paar Jahren. Sie zögerte einen Moment, dann ging sie in den Laden und ließ sich von der Verkäuferin etwas auf den Handrücken sprühen. Für einen Moment schloß sie die Augen und atmete den Duft tief ein. Er weckte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Und an Alessandro, ihre bis dahin große Liebe. Sie hatte ihn vor 12 Jahren während eines Urlaubs an der Cote d'Azur kennengelernt und eine leidenschaftliche Affäre mit ihm gehabt. Er war halb Italiener, halb Franzose, ein verrückter, gut aussehender Typ. Er hatte in Nizza ein Bistro und war fast 20 Jahre älter als sie. Julia lächelte bei dem Gedanken. Es war eine herrliche, chaotische Zeit mit ihm gewesen. Julia hatte gerade eine Stellung als Fotografin für eine Kölner Tageszeitung angetreten. Sooft es ihre Termine und Finanzen erlaubten fuhr sie mit dem Zug zu Alessandro. Nach ein paar Monaten hatte er vorgeschlagen, sie solle ganz zu ihm nach Nizza ziehen. Julia war hin und her gerissen. Ihre Eltern waren wegen des Altersunterschieds außer sich und setzten sie unter Druck, die Affäre zu beenden. Alessandro drängte immer mehr auf eine Entscheidung. Sie liebte ihn, aber sie konnte sich damals nicht dazu durchringen, alles aufzugeben. Dafür fehlte ihr das nötige Selbstbewzußtsein und die Kraft, sich durchzusetzen. Kurzte Zeit später machte Alessandro Schluss, er hatte eine andere Frau kennengelernt.. Für Julia brach die Welt zusammen, sie versuchte alles, um Alessandro zurückzugewinnen. Zu spät. Alessandro hatte das Kapitel bereits abgeschlossen. Auch jetzt, über 10 Jahre später, tat der Gedanke an Alessandro noch immer weh. Er hatte ihr Chanel Nr. 5 zum Geburtstag geschenkt. Als es aus war mit ihm, ertrug sie den Duft nicht mehr. Julia marschierte Richtung Isartor und stieg in den Bus der Linie 52, Richtung Tierpark. Ihre Eigentumswohnung lag in der Nähe des Zoos, fast im Grünen und doch nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Sebastian war bei der Wohnung anfangs skeptisch gewesen, da der Makler darauf hingewiesen hatte, dass man bei gelegentlich einen Löwen oder Elefanten brüllen hören.könnte. Doch Julia hatte gerade die Nähe der exotischen Tiere fasziniert. Außerdem war die Wohnung auch ansonsten traumhaft. Sie hatten den Kauf beide nicht bereut. Als sie nach Hause kam war Sebastian schon da. Er empfing sie mit vorwurfsvollem Blick. “Neuerdings kommst du immer so spät nach Hause...” Julia zuckte nur wortlos die Schultern. Sebastian lockerte die Krawatte und legte seine Arme um ihre Taille. “Wir haben kaum noch Zeit für uns...” Julia schlüpfte aus seinen Armen. “Tja.” Sie verschwand in der Küche und überprüfte den Inhalt des Kühlschranks . Sebastian kam ihr nach, nahm sie an der Hand und drückte die Kühlschranktür wieder zu. “Ich habe für heute Abend einen Tisch beim Italiener reserviert.” “Nee”, murrte Julia. “Ich habe heute eigentlich keine Lust mehr auszugehen.” “Ach komm. Du springst schnell unter die Diusche, ziehst dir was Hübsches an und los geht’s.” “Mensch Sebastian, ich bin echt total geschafft, ich habe einen harten Tag hinter mir”, wehrte Julia ab. Sebastian schüttelte den Kopf. “Keine Chance.” “Also gut”, murmelte Julia und verschwand im Bad. “Ich bin gleich fertig.” “Prima”, freute sich Sebastian und rieb sich die Hände. Im Badezimmer stützte sich Julia auf das Waschbecken und sah in ihr Gesicht. Sebastian war so aufmerksam, so nett. Der beste Ehemann, den man sich vorstellen konnte. Jede andere Frau würde sie um so einen Mann beneiden. Und was machte sie? Gab einem wildfremden, wilden Araber ihre Visitenkarte und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihn zurückzurufen. Sie stellte den Wasserhahn an und spritzte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Franziska hatte recht, sie sollte ihn nicht zurückrufen. Julia stellte die Dusche an. Und ich werde es auch nicht tun, beschloß sie. Die Telefonnummer kommt in den Müll. Der marokkanische Fakir wird gestrichen. Ich muß mir wieder mehr Mühe geben mit Sebastian, beschloß die und stieg unter die Dusche. Sie streckte ihren Kopf hoch und ließ den Wasserstrahl über ihr Gesicht prasseln. Vielleicht war es wirklich eine gute Idee, heute essen zu gehen. Und danach, mal sehen... Kap. 6 Von weit her dringt plötzlich eine süße Stimme an sein Ohr. Sie singt ein arabisches Lied. Miro kennt dieses Lied. Aber woher. Er versucht, sich zu konzentrieren, doch sein Kopf tut höllisch weh. Alles tut ihm weh. Diese Stimme, dieses Lied. Dann plötzlich wurde alles wieder klar vor seinen Augen. Die Stimme gehörte seine Großtante Samira. Sie lebte am Rande des Dorfes, alle hatten großen Respekt vor ihr. Sie kann zaubern, hieß es. Miro war ihr Liebling, und er liebte die alte Frau mit den schönen hellbraunen Augen und dem weisen Gesicht. Die Tür öffnete sich. Bei seinem Anblick huschte ein Lächeln über Samiras Gesicht. “Ich habe schon auf dich gewartet.” Sie winkte ihn durch den kleinen schmalen Gang in ein Hinterzimmer und deutete auf einen Käfig. “Sieh mal, ich habe eine neue Freundin.” Miro starrte fasziniert auf eine Schlange, die sich träge ringelte. Er wollte zu ihr gehen und sie anfassen. Samira hielt ihn am Arm zurück. “Nicht so schnell. Das ist eine Kobra. Du mußt lernen, mit ihr zu reden.” Miro strahlte seine Großtante mit seinen dunklen Augen an. “Wirst du es mir zeigen?” Samira schob einen Ärmel ihres langen roten Gewandes zurück und packte die Schlange mit einem schnellen Griff am Kopf. “Zuerst mußt du sie entgiften. Die Giftzähne habe ich schon entfernt, siehst du. Aber sie kommen immer wieder nach. Deshalb muß du einen Teil ihres Schlunds zunähen. Dann kann sie ihren Mund kaum mehr öffenen und nicht mehr zubeißen.” Sie legte die Schlange in ein kleines Körbchen und schloß den Deckel darüber. Dann kniete sie sich auf den Boden. Miro ließ sich neben ihr nieder und beobachtete jeden Handgriff. Samira leerte das Körbchen auf dem Boden, die Schlange huschte heraus. Mit schnellen Bewegungen in der Luft und eigenartigen Geräuschen bewegte Samira die Schlange dazu, ihren Kopf in die Luft zu strecken und zu tanzen. “Toll”, staunte Miro. “Das wirst du auch bald können, Miro, du hast die Gabe dazu.” Das sagte Samira oft zu ihm. Miro fühlte, dass es etwas besonderes war, diese Gabe zu besitzen Samira packte die Schlange wieder zurück in ihren Käfig. “Noch nicht!”, beschwerte sich Miro. Samira strich ihm zärtlich über den Kopf. “Nur langsam, du hast noch so viel Zeit.” Miro folgte ihr in die Küche im Hof. Er mochte ihre vom Ruß völlig geschwärzte alte Küche. Auf drei Steinen in der Feuerstelle stand ein Topf, das wichtigste Mobilar. Dann gab es noch einen Tonteller, auf dem das Brot gebacken wurde, ein Tontopf, in dem Gemüse garte und ein Tonkrug, in dem die Milch säuerte, bevor sie im Fellsack gebuttert wurde. Viele Stunden des Tages verbrachte Samira hier mit dem Mahlen des Korns auf der Handmühle, dem Schlagen des Buttersacks und dem Aufklopfen der Nüsse. Er lehnte sich in den Türrahmen und sah zu, wie sie einen kräftigen the à la menthe bereitete. Es duftete herrlich nach Pfefferminze. Miro trank seinen the und lehnte sich neben seine Großtante. “Samira, alle sagen, du bist eine Hexe?” Samira lachte ihr tiefes, geheimnisvolles Lachen. “Nein. Hexen können töten, wenn sie tief einatmen und dabei intensiv an ihr Opfer denken. Sie gehen nachts auf die Friedhöfe und melken dort die Brüste der Mondfrau. Sie sammeln diese wundertätige Flüssigkeit in einem Schädel, vermischen sie mit gemahlenen Knochen und dem Gift des Skorpions. Diese Hexenmedizin hat eine gewaltige Kraft, ein Todeszauber, gegen den es kein Gegenmittel gibt. Aber Hexen mischen auch unwiderstehliche Liebestränke, die heimlich von den Frauen benutzt werden und sie stellen Amulette her, die besondere Anziehungskraft verliehen.” Samira sah in Miros strahlende Augen. “Aber das, kleiner Miro, wirst du nie brauchen. Du wirst einen Trunk brauche, der dir die Frauen wegzieht...” “Und woran erkennt man eine Hexe?”, bohrte Miro weiter. Samira senkte die Stimme. “Nun, es gibt eine Hexenprobe. Die Hexe muß ihr Gesicht über ein Feuer halten, in dem etwas Schwefel oder eine stark riechende Pflanze verbrannt wird. Muß die Hexe niesen, ist sie überführt. Hexen mußt du nicht fürchten. Aber den tehot, den den bösen Blick.” “Was ist das?” “Es gibt Menschen, die haben den bösen, eifersüchtigen Blick auf ein schönes Tier, auf ein Kind, prächtige Kleidung, reichen Schmuck. Hüte dich vor tehot.” “Und wie?”, fragte Miro. Samira nahm eine der viele goldenen Ketten von ihrem Hals, drückte den Anhänger an ihre Lippen und hängte sie Miro um. Es war eine schwere Goldkette mit einem Anhänger, einer filigranen Fatima-Hand mit einem roten Edelstein. Samira lächelte. “Damit. Sie wird dich vor tehot schützen. Du darfst sie niemals verlieren.” Die Kette. Miro will nach ihr tasten. Er versucht seine Hand zu heben. Es geht nicht. Er will nachsehen, seinen Kopf heben. Es gelingt ihm nicht. Kraftlos lässt er sich nach hinten sinken. Es klopft an der Tür. Miro spürt, wie sich jemand vorsichtig seinem Bett nähert. Er fühlt einen warmen Händedruck. Eine Hand fährt über seine Haare. Ihm ist heiß, er hat Durst, sein Mund fühlt sich an wie ausgetrocknet. Warum bringt ihm denn niemand etwas zu trinken. “Miro, wach bitte auf. Miro ich bin’s Yussuf!” Yussuf. Sein ältester Bruder, einer von seinem elf Geschwistern. Plötzlich erkannte er ihn. Zuerst ganz verschowmmen, dann wurden seine Gesichtszüge klarer. Doch Yussuf war noch klein, keine vierzehn Jahre alt. Und er klopfte an Samiras Tür. Miro öffnete. Yussuf packte den kleinen Bruder am Kragen und wollte ihn aus Samiras Haus bugsieren. “Wie oft hat Mutter dir gesagt, du sollst nicht immer zu Samira gehen. Warst du überhaupt in der Schule?” Miro machte sich los. “Warum soll ich in die Schule gehen, bei Samira lerne ich doch viel mehr.” Yussuf schüttelte ihn. “Flausen setzt sie dir in den Kopf. Nichts als Flausen. Mutter sagt, du mußt lernen, Miro.” Miro funkelte den Bruder wütend an. “Sag Mutter, ich werde kommen, wenn ich will!” Yussuf ballte die Fäuste. “Du mußt mitkommen, jetzt, sonst....!” Miro stellte sich in Kampfposition. “Sonst....?” “Auseinander, ihr Streithähne!” Samira stellte sich zwischen die beiden. Miro sah sie flehentlich an. “Samira, ich will noch bei dir bleiben.” “Mutter sagt, ich muß ihn nach Hause holen”, protestierte Yussuf. Samira verschränkte die Arme. “Also gut. Sag deiner Mutter, Miro wird pünktlich in einer halben Stunde zu Hause sein.” Yussuf sah Samira an und zuckte die Achseln. Dann drehte er sich um und rannte los. Miro sah Samira dankbar an. Sie strich über seine dunklen Haare. “Du mußt deiner Mutter gehorchen, Miro, sie will nur, dass aus dir etwas Anständiges wird, dass du es besser hast als wir.” Miro nickte gehorsam. Er liebte seine Mutter über alles. Aber manchmal verstand er sie nicht. Er lehnte im Türrahmen. “Mutter ist oft so traurig. Und ich will ihr helfen, aber ich weiß nicht, was ich tun soll.” Samira nickte. “Deine Mutter hatte es nicht immer leicht.” Plötzlich ist sie wieder da, die süße Stimme, das arabische Lied, plötzlich ganz nah, dann ganz verschwunden. Kap 7 Julia marschierte durch die Drehtür des Alba-Verlags und nahm den Lift in den ersten Stock. In der Redaktion von Traveller news herrschte Hektik. Sie sah sich kurz um und steuerte dann auf den Schreibtisch von Bettina Weiß zu. Die begrüßte sie mit einem ferundlichen Lächeln. “Schön, dass sie kommen konnten.” Sie zog Julia einen Stuhl heran. Julia setzte sich. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, sie zuckte zusammen. Dort lag die Großaufnahme des Fakis im Berberdorf. “Wie schon am Telefon erwähnt, haben wir einiges umgestellt.” Bettina Weiß deutete auf das Fakirfoto. “Das wird unser Titelbild, da sind sich alle einig.” “Hm, da bin ich jetzt aber doch etwas überrascht”, stotterte Julia. Bettina hob das Foto hoch. “Sehen sie es sich doch an. Eine Momentaufnahme, voller Dynamik, Spannung, perfekt kombiniert. Die Farben, die Stimmung, und dazu die Augen dieses Berbers..” Julia konnte nur noch stumm nicken. “Wie gesagt, nichts gegen ihren Vorschlag. Der Sonnenaufgang in der Wüste ist phantastisch und wir werden ihn auch auf den vorderen Seiten plazieren, aber unser Entschluß bezüglich des Titelbildes steht fest. Können Sie damit leben?” Julia atmete tief durch. “Tja, was soll ich sagen, vielleicht haben Sie recht.” Bettina legte das Foto zur Seite und nahm einen Notizblock zur Hand. “Bestimmt, sie werden sehen. Und jetzt zum nächsten Punkt, die Bildunterschriften von Baumann sind äußerst schwach, die können wir vergessen.” Julia runzelte die Stirn. “Die Befürchtung hatte ich von Anfang an... ” “Zu Recht. Haben Sie vielleicht einen Vorschlag, wer das machen könnte?” Julia überlegte. “Ich könnte Franziska Franke fragen. Sie ist Journalistin und eine gute Freundin von mir, aber wie wir alle ständig in Zeitdruck.” “Fragen Sie sie. Wir könnten den Textteil auch erweitern. Ich meine, mit einer Autorin wie Franziska Franke drängt sich die Idee ja förmlich auf.” “Ich kann nichts versprechen, aber ich sehe zu, was ich machen kann.” Bettina hakte einen Punkt auf ihren Notizblock ab. “Noch was, Julia, wir brauchen unbedingt mehr Fotos. Die Auswahl reicht für die verschiedenen Formate nicht aus.” Julia sah Bettina entsetzt an. “Ist das ihr Ernst?” Bettina nickte. “Wie es aussieht müßten Sie noch einmal nach Marokko fliegen, wir übernehmen selbstverständlich die Kosten.” Julia atmete tief durch. Nach Marokko fliegen hieße möglicherweise den Fakir wiedersehen. Sie zuckte mit den Schultern. “Also gut, wenn es sein muß.” “Wunderbar. Am besten Sie nehmen Frau Franke gleich mit, vorausgesetzt natürlich, Sie können sich auf einen gemeinsamen Termin einigen.” “Ich rede mit ihr.” Julia sah auf die Uhr. Bettina erhob sich. “Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.” “Sie hören von mir.” Julia nahm den Lift in die Tiefgarage. Sie setzte sich in ihren Fiat Uno und ließ den Motor an. Dann drehte sie den Zündschlüssel wieder um und lehnte sich zurück. Eigentlich hatte sie beschlossen, den Fakir nicht anzurufen, Marokko zu vergessen. Jetzt hatte sie wohl keine andere Wahl. Sebastian hatte ein Geschäftsessen, es würde spät werden, hatte er gesagt. Julia schlüpfte mitten im Gang aus ihren hochhackigen Pumps, ging an den Kühlschrank und holte eine Flasche Mineralwasser heraus. Sie lehnte sich an die offene Balkontür und sah über die dichten Baumkronen in den blauen Himmel. Sie fühlte sich seltsam unruhig und aufgewühlt. Wie war es möglich, daß die Begegnung mit diesem Fakir sie derart durcheinander bringen konnte? Sie war schließlich verheiratet und Sebastian war ein Mann, wie ihn sich die meisten Frauen wünschen würden. Aber seit sie den Fakir gesehen hatte verblaßte Sebastian in ihren Gedanken immer mehr. Damals, nach der Beziehung mit Alessandro war Julia in ein tiefes Loch gefallen, sie war so unglücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Da lernte sie Sebastian kennen. Sie traf ihn bei der Eröffnungsfeier einer Hamburger Anlageberatungsfirma, die eine Filiale in Köln aufmachte. Sebastian war stellvertretender Filialleiter. Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick, aber Sebastian war ihr sofort sympathisch. Er war ein unkomplizierter, jugendlicher Typ mit viel Humor, der es verstand Julia aus ihrem Tief herauszureißen. Sie trafen sich zum Tennis, gingen Essen oder fuhren in die Berge. Sebastians Annäherungsversuche wehrte sie allerdings einige Zeit ab. Doch er gab nicht auf. Julia fühlte sich sicher und geborgen in Sebastians Gegenwart und das Zusammensein mit ihm war erholsam verglichen mit den Berg- und Talfahrten die sie mit anderen Männern hinter sich hatte. Schließlich gab sie nach und die beiden wurden ein Paar. Julias Eltern waren begeistert von dem Schwiegersohn und förderten die Beziehung so gut es ging. Endlich eine stabile Beziehung mit einem vorzeigbaren Mann. Und damals war eine stabile Beziehung in der Tat das, was sie brauchte. Und jetzt? 10 Jahre später? Wild entschlossen stellte sie die Flasche zur Seite und ging zum Schlafzimmerschrank. Sie griff nach ihrem Blazer und zog den zerknüllten Zettel mit der Nummer des Fakirs heraus. Sie wanderte vor dem Telefon auf und ab. Nein, sie packte den Zettel wieder zurück in die Blazertasche. Jetzt nicht, sie war viel zu aufgeregt, um mit ihm zu sprechen. Ich werde erst einmal ein Bad nehmen, beschloß sie dann. Sie ließ das Wasser einlaufen, zog sich aus und betrachtete ihren Körper im Spiegel. Eigentlich konnte sie ganz zufrieden sein. Gut, sie war keine zwanzig mehr, doch für zweiunddreißig hatte sie sich ganz gut gehalten. Bloß gut, dass sie ihr Training konsequent durchgehalten hatte. Julia stieg in die Wanne und legte sich zurück. Das warme Wasser tat gut. Sofort fühlte sie sich ruhiger und entspannter. Sie schloß die Augen und atmete tief durch. Nach dem Bad fühlte sie sich wie neugeboren. Sie hüllte sich in ihren flauschigen Bademantel, hockte sich mit dem Telefon auf die Couch und wählte seine Nummer. “Hallo, oui”, meldete sich eine etwas unfreundliche Stimme. Oje, dachte Julia, hoffentlich ist er das nicht. Am liebsten hätte sie sofort wieder aufgelegt. “Mein Name ist Julia Carstens, könnte ich bitte den Fakir sprechen?” Im Hintergrund hörte sie arabische Stimmen, dann Stille. “Hallo?”, ertönte eine freundliche, etwas rauhe Stimme. “Hallo, ich bin Julia...”, begann sie auf französisch. “Du kannst deutsch sprechen, wenn du willst”, unterbrach er sie. “Äh, ja, gerne. Vielleicht erinnern Sie sich...” “Du bist die Fotografin, ja? Und du kannst du sagen, ok?” “Ja, okay.” “Ich habe angerufen, die Frau am Telefon hat nichts gewußt.” “Tut mir leid, ich habe nicht Bescheid gesagt.” “Macht nichts. Kein Problem. Wofür sind deine Fotos?” “Für ein Buch über Marokko, einen Bildband. Ich hoffe, du hast nichts dagegen?” “Ich sag dir ganz ehrlich, normalerweise mag ich sowas nicht.” “Man erkennt dich ja nicht.” “Ich weiß, nur deshalb ist es ok, aber normalerweise nicht....” “Ja, das kann ich gut verstehen.” “Und wann kommst du wieder nach Marokko?” “Ja, deshalb rufe ich an. Ich werde in circa zwei Wochen nochmal kommen. Wenn dich die Fotos interessieren, kann ich sie dir mitbringen.” “Ja, sicher. Warum nicht. Du rufst mich an, wenn du hier bist, ja?” “Ok.” “Tut mir leid, ich muß jetzt weg. Es ist spät, ich habe gleich Show, verstehst du?” “Sicher.” “Wir unterhalten uns, wenn du hier bis, okay?” “Bis dann.” Der Fakir hatte schon längst aufgelegt, Julia stand immer noch da und wiegte den Hörer in der Hand. Kurzentschlossen wählte sie Franziskas Nummer. “Hi, ich bin’s Julia, ich hätte einen Auftrag für dich.” “Nämlich?” “Du mußt den Text zu meinem Marokko-Band schreiben.” “Aha!”, machte Franziska trocken. Julia mußte grinsen, Franziska hatte sie natürlich sofort durchschaut. “Und deshalb müssen wir beide zusammen auch dorthin reisen, stimmt’s?”, ergänzte sie auch sofort. “Genau.” “Du hast den Typen also zurückgerufen?” Julia hockte sich auf den Schreibtisch. “Es mußte sein.” “War mir klar, und wie seid ihr verblieben?” “Naja, ich habe ihm gesagt, dass ich beruflich noch einmal nach Marokko kommen muß.” “Und wie hat er reagiert?” “Ich soll ihn anrufen, wenn ich da bin.” “Oh Mann....” “Also, was ist, kann ich mit dir rechnen, bist du dabei?” Franziska seufzte. “Habe ich eine Chance? Außerdem bin ich langsam wirklich gespannt auf diesen Wunderknaben...” Kap. 8 Miro spürt einen stechenden Schmerz im Arm. Ein Schmerz wie ein Nadelstich. Es wird dunkel um ihn herum, dann lichtet sich der Vorhang, ganz langsam. Er saß neben dem Nähkästchen seiner Mutter und hielt eine dicke Nadel in der Hand. Langsam schob er sie durch die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Es schmerzte ein bißchen, Nicht viel. Wenn er sich konzentrierte, spürte er gar nichts. Vorsichtig zog er die Nadel wieder heraus. Er untersuchte die Stelle. Es war kein Blut zu sehen. Plötzlich hörte er Lärm an der Wohnungstür. Es waren seine Eltern, die von einer Reise nach Bizerte un Mateur im Norden zurückkamen. Miro packte die Nadeln zurück, sprang die Treppe hinunter und lief auf seine Mutter zu. Sie hatte wieder diesen traurigen, hoffnungslosen Blick in ihren Augen, den sie so oft hatte. Sein größerer Bruder Amal bremste ihn. “Laß Mama, es geht ihr nicht gut!” Miro ließ sich nicht abhalten und hielt an seiner Mutter fest. Mit kraftloser Hand fuhr sie ihm über den Kopf. “Hallo mein kleiner Schatz, laß mich jetzt ein wenig ausruhen.” Sein Vater packte ihn an der Hand. “Komm, geh hinaus, spiele mit den anderen Kindern.” Miro trottete enttäuscht die Treppe hinunter. Er sah kurz zu den anderen Jungen, die im Nachbarhof Fußball spielten, dann nahm er sein klappriges Fahrrad und fuhr in der Abendsonne zu Großtante Samira. “Miro, schön, dass du kommst.”, freute sie sich. Sie lotste ihn in die Küche und preßte ihm einen frischen Orangensaft. “Du siehst traurig aus.” Sie gab ihn ein Glas Saft. “Das gibt dir wieder neue Kraft.” Sie fuhr ihm durch seine dunklen Locken. “Erzähl, warum bist du so betrübt?” “Sie haben mich fortgeschickt. Mama geht es wieder mal nicht gut. Ich verstehe nicht. Ich habe meine Mama doch lieb und möchte ihr helfen, aber keiner sagt mir, was ihr fehlt. Immer sagen sie nur, ‘du bist zu klein, du verstehst das noch nicht.” Er streckte sich und spannte seinen Bizepsmuskel an. “Ich bin doch schon groß und kräftig, sieh her.” Samira legte den Arm um ihn und drückte ihn an sich. “Es ist Zeit, ich werde dir die Geschichte deiner Mutter erzählen.” Miro legte seinen Kopf in ihren Schoß. “Dein Großvater und deine Großmutter lebten in einem Berberdorf im Süden. Dort, wo wir heute manchmal Feste feiern. Als deine Großmutter schwanger wurde, beschloß dein Großvater nach Hammam Kairui zu ziehen. Dort, so hörte er, konnte man mehr Geld verdienen und er wollte seinen Kindern ein besseres Leben bieten. Die beiden fanden eine Wohnung und bald darauf kam deine Mutter zur Welt. Deine Großmutter aber war von der Geburt so geschwächt, dass sie ein paar Wochen später starb. Nun stand dein Großvater mit einem kleinen Baby, einem süßen dunkelhäutigen Mädchen alleine da. Dann brach auch noch der Krieg aus und er mußte zur Armee. Was sollte er mit seiner Tochter machen? Er überlegte, ob er sie zurück in sein Berberdorf bringen sollte, aber dazu war keine Zeit und er hatte auch nicht genug Geld für die Fahrt. Da erzählte ihm ein Nachbar von einem reichen Araber, der mit seiner Frau, einer wunderschönen Algerierin in einer Villa am Stadtrand lebte. Die Frau, so erzählte der Nachbar, könne keine Kinder bekommen und würde das Mädchen bestimmt aufnehmen. Und tatsächlich war die Algerierin entzückt von dem kleinen Baby mit den dunklen Kulleraugen und den Kringellöckchen. Sie nahm es deinem Großvater gleich aus dem Armen. Mit Tränen in den Augen ließ er seine Tochter zurück und zog in den Krieg. Als er nun einige Monate später zurückkam und sein kleines Mädchen wieder abholen wollte, weigerten sich die reichen Leute, es wieder herzugeben. Er solle doch froh sein, dass seine Tochter hier aufwachsen dürfe und außerdem könne er ja nicht einmal beweisen, dass es seine Tochter war. Dein Großvater setzte Himmel und Hölle in Bewegung, doch der Araber war ein einflußreicher Mann und dann Großvater mußte bald wieder in den Krieg ziehen. Und diesmal kehrte er nicht zurück. Zouozou hing gebannt an Samiras Lippen. “Erzähl weiter!” “Nun, die Nachbarn deines Großvaters benachrichtigten uns. Mein Bruder und ich, wir haben beide versucht Leila zurückzuholen, doch es war vergeblich. Der Araber war ein sehr mächtiger Mann, was konnten wir armen Berber aus dem Süden dagegen schon ausrichten.” Miro ballte wütend seine Fäuste. “Deine Mutter wuchs heran. Es ging ihr nicht schlecht, doch sie wurde nie wie eine Tochter behandelt. Sie mußte im Haushalt mithelfen und wurde im Grunde von niemandem respektiert. Sie war ja dunkelhäutig und die Araber hielten sich für etwas besseres. Sie solle froh sein und Allah danken, dass sie in einer so geachteten Familie leben durfte, sagten sie immer wieder. Dann lernte die Anour, deinen Vater kennen. Er verliebte sich auf den ersten Blick in sie und sie heirateten bald.” “Und weiter?” “Die Pflegeltern starben bald und sie hinterließen deiner Mutter nicht einen einzigen Dinar.” Miro sah auf. “Gut, dass diese schrecklichen Menschen tot sind, sonst bekämen sie es mit mir zu tun!” Samira lächelte. Sie trank einen Schluck Orangensaft. “Und weißt du, seither ist deine Mutter auf der Suche nach dem Grab ihres Vaters. Sie wird nicht zur Ruhe kommen, ehe sie es gefunden hat, es ist wie eine Besessenheit. Niemand kann es ihr ausreden. Sie sucht weiter und weiter. Erst gestern haben deine Eltern in Bizerte gesucht, doch dein Großvater hatte einen Namen, der häufig vorkommt. Und das macht deine Mutter so traurig.” Samira drückte Miro an sich. “Und jetzt mach, dass du nach Hause kommst, es wird schon dunkel.” Kap. 9 Der Condor-Airbus setzte etwas unsanft auf der Rollbahn in Agadir auf. Die Stewardess schob die Luke auf. Durch die offene Tür strömte schwülwarme Luft. Julia und Franziska reihten sich in die Schlange am Ausgang. Die Luft über dem Flughafengebäude flimmerte “Puh, ist das heiß!”, stöhnte Franziska, als sie die Gangway hinuntergingen.. “Stehende Hitze! Welcher Idiot reist auch im August nach Marokko? Ich meine außer uns natürlich...” Nach der Paßkontrolle holten sie ihr Gepäck und stiegen in eines der Taxis, die vor dem Flughafen warteten. Franziska rutschte zuerst in den Wagen. “Ich bin ja echt mal gesapannt auf das Land.” Julia rückte nach. “Shalimar Palace”, gab sie dem dunkelhäutigen Taxifahrer durch. “Stimmt, du bist zum ersten Mal hier.” “Ein Cluburlaub in Marokko, mehr Orient stand bisher noch nicht auf meinem Programm.” Julia lehnte sich zurück. “Dann wird’s aber höchste Zeit.” Franziska musterte sie skeptisch. “Ganz ehrlich, wenn es nicht um dein Buch ginge und um dich natürlich, wäre ich nie hierhergefahren.” Das Taxi fuhr zügig an der Hotelreihe am Meer entlang. “Da wäre dir etwas entgangen”, seufzte Julia. “Abgesehen davon war es schon lange mal wieder fällig, dass wir gemeinsam wegfahren.” “Stimmt”, nickte Franziska. “Wie lange ist es her...?” “Zehn Jahre, nein mehr. Florenz? Paris?” Franziska kicherte. “Oder der Teutonengrill in Rimini vor, naja, zwanzig Jahren.....” “Oh Mann, sind wir wirklich schon so alt...” Julia wandte sich an den Taxifharer. “Könnten sie bitte das Fenster öffnen, es ist so heiß hier drin...” “Jaja, dir bestimmt...”zog sie Franziska auf. Julia sah die Freundin an und verdrehte die Augen. “Okay, okay, ich hör schon auf”, Franziska sah aus dem Fenster. “Es sieht hier ganz anders aus als in Marokko. Schön hell.” “Eine Mischung aus mediterranem, orientalischem und andalusischem Flair.” Julia deutete nach draußen. “Kairui, gleich sind wir in Makida.” “Aha.” “Kairui ist übrigens die drittgrößte Stadt Marokkos, nach Marrakesch und Sfax. Die Altstadt ist schön, mit Medina und Souks, richtig orientalisch.” “Ich freu mich drauf.” Franziska beobachtete das blitzblaue Wasser, das an den hellen Sand spülte. “Aber noch mehr auf das Meer.” Der Taxifahrer kurvte durch Makida die mit Palmen gesäumte Auffahrt eines Hotels im Palaststil mit Türmchen und Minaretten hinauf. “Shalimar Palace.” Julia und Franziska steigen aus, ein livrierter Portier kümmerte um das Gepäck, sie folgten ihm in die weitläufige Hotelhalle. Sie richteten sich in ihrem Zimmer ein, inspizierten das Hotel und drehten vor dem Abendessen noch ein paar Runden im Swimmingpool. Nach dem Essen unternahmen sie einen Bummel durch die Yachthafenanlage von Makida. Zurück liefen sie am Meer entlang. Am Hotelstrand ließen sie sich auf zwei Liegestühlen nieder. Über dem Wasser hing ein riesiger knallroter Vollmond und bildetete einen langen tiefroten Teppich auf der Wasseroberfläche. “Hast du schon mal so einen dunkelroten Mondteppich gesehen?”, seufzte Franziska. “Wunderschön.” “Und, wann willst du anrufen?” “Gar nicht.” Franziska wandte ihren Blick vom Mondteppich ab. “Wie?” “Wenn der Showplan vom letzten Mal noch stimmt, tritt er morgen im Club Soleil auf. Da gehen wir einfach hin.” “Und dann?” “Na, dann werde ich ihn nach der Show ganz unspektakulär ansprechen.” . Franziska sah Julia erstaunt an. “Ich dachte, du hast mit ihm ausgemacht, dass du dich meldest?” Julia griff sich eine Handvoll Sand und ließ ihn durch ihre Finger rinnen. “Ich weiß, aber ich habe keine Lust. Ich will keine große Sache daraus machen, es soll eher ganz zufällig aussehen.” Franziska grinste. “Aha, unspektakulär und zufällig...” Julia schüttelte den Sand von ihren Fingern. “Mein Gott, ich darf gar nicht daran denken. Ich fühle mich schlimmer, als vor meiner Abschlußprüfung auf der Fotoschule.” Franziska legte die Hand auf den Arm der Freundin und sah sie mitleidig an. “Dich hat’s ganz schön erwischt, oder?” “Ich fürchte ja.” Am nächsten Morgen standen Julia und Franziska früh auf und gingen gleich nach dem Frühstück ans Meer. Sie suchten sich einen Sonnenschirm nahe am Wasser und machten es sich auf zwei Strandliegen bequem. Franziska schob ihre Sonnenbrille zurück und schielte zu Julia. “Na, nervös?” Julia kramte die Sonnencreme aus ihrer Badetasche. “Nervös?” “Heute abend startet doch die Aktion ‘Ich treffe Mr. Fakir’” Julia begann ihre Beine einzucremen. “Es geht mir wunderbar - wenn ich nicht daran denke...” “Aber du gehst doch heute abend zu ihm, oder bekommst du am Ende doch noch kalte Füße?” Julia verschmierte die Creme auf ihrem Bauch. “Nein, ich fürchte, da muß ich jetzt durch.” Franziska grinste. “Absolut, schießlich sind wir ja deswegen auch hier.” “Also bitte”, protestierte Julia. “Nicht nur deswegen.” “Okay, okay, die Fotos für dein Buch, aber was ist jetzt wichtiger für dich....” Julia streckte sich auf der Liege aus. “Laß uns von etwas anderem reden, ich glaube, mir wird gleich übel...” Franziska schob ihre Brille zurück. “Aha, so cool bist du also doch nicht, meine Liebe...” “Cool? Mir wackeln die Knie sogar im Liegen, wenn ich nur an diesen Typen denke.” “Ach wie schön”, seufzte Franziska. “Schön? Spinnst du? Schrecklich ist das. Ich fühle mich wie fünfzehn, als ich heimlich in die Diskothek ging, statt in die Tanzschule, um den DJ anzuhimmeln.” “Ich doch herrlich, wenn man sich wieder fühlen kann, wie damals, der flaue Magen, die Aufregung....” Julia lehnte sich auf. “Aber heute bin ich verheiratet”, sagte sie nachdenklich. “Stimmt!”, nickte Franziska trocken. Julia betrachtete nachdenklich die kleinen Wellen, die gegen den Sand schwappten. “Naja, irgendwie wird das auch wieder vorbeigehen. Alles kommt und geht...” “Mal langsam”, protesierte Franziska. “Es hat noch nicht mal angefangen.” “Und es wäre vernünftiger, es würde niemals anfangen”, ergänzte Julia. “Bestimmt wär’s das, aber vernünftig kannst du auch noch mit fünfzig sein.” Julia sah sie an und prustete los. “Schöne Freundin!” kap. 10 Miro versucht, die Augen zu öffnen. Er blinzelt mit einem Auge in ein grelles Licht, es blendet, tut weh. Er schliesst das Auge wieder. Da ist wieder helles Licht, diesmal blendet es nicht. Es waren die Scheinwerfer von einem Auto. Er fühlte Wasser, schmeckte Salz, das Meer. Er tobte mit einem Freund in den Wellen am Strand von Kairui. Es war schon fast dunkel. “He, Miro, ich kann höher springen als du”, rief ihm der Junge zu. “Noch”, rief Miro zurück. “Aber eines Tages werde ich dich schlagen, paß gut auf Achim.” Achim machte ihm die lange Nase und rannte durch den warmen Sand davon, Miro rannte hinterher. Wie zwei junge Hunde tobten sie im Sand herum. Auf einmal sahen sie einen Mann neben einem Auto stehen . Er winkte ihnen zu. “Na, ihr zwei!”. “Guten Tag”, sagte Miro artig. Achim musterte verstohlen das Auto des Mannes, es war ein schönes, neues Auto mit einem italienischen Kennzeichen. Der Mann war Achims Blick gefolgt. “Was ist, wolt ihr mal eine Runde in meinem Auto drehen?” Achim und Miro sahen sich an. Sie waren noch in ihrem Leben in einem Auto gesessen. Aber der Gedanke mit einem fremden Mann mitzufahren, machte ihnen Angst. Vielleicht war er schwul. Sie waren zwei hübsche vierzehnjährige Jungs mit olivfarbener Haut und dunklen Haare. “Was ist? Ich beiße nicht!” Achim stieß Miro in die Seite. Komm schon, hieß das. Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit haben werden in so einem Auto zu sitzen. Der Mann öffnete ihnen die Hintertür. Miro und Achim schlüpften nacheinander hinein. Sie strichen über die sauberen Polster, bestaunten das glänzende Armaturenbrett. Der Mann setzte sich hinter das Lenkrad und startete den Wagen. “Habt ihr Lust, drehen wir eine Runde? Ich brauche nämlich eure Hilfe.” Miro und Achim wechselten angstvolle Blicke. Aber die Neugier war dann doch größer. Sie kurbelten das Fenster hoch und wieder runter, streckten die Haare in den Wind, schnallten sich an und wieder ab. Nach einer halben Stunde Fahrt hielt der Mann an. “So, hier sind wir. Ach, ich heiße übrigens Enzo.” Miro sah sich um. Sie standen auf einem völlig verlassenen Stück Land, um sie herum nichts als dichte Kakteenwälder. Die Angst kroch wieder in ihnen hoch. Wären sie nur nicht in das Auto eingestiegen. Miro überlegte, wie er sich am besten verteidigen konnte, da öffnete der Mann die Autotür an seiner Seite. “Kannst du bitte aussteigen?” Miro blieb sitzen. Der Mann deutete auf die Kakteenfelder. “Könnt ihr mir helfen? Ich möchte Kakteenfrüchte ernten. Das ganze Auto voll.” Miro starrte den Mann ungläubig an. Darum ging es ihm also. Er sprang aus dem Auto, suchte einen langen Stock und half Enzo bei der Ernte. Es war schon dunkel, als sie das ganze Auto vollgeladen hatten und wieder zurückfuhren. Der Fremde hielt vor einem Ferienappartment am Meer und lud die beiden zum Dank für ihre Hilfe zum Essen ein. Von nun an kam Enzo jeden Sommer, Achim und Miro freuten sich jedesmal auf die Fahrt in dem Auto. Eines Sommers lud Enzo die beiden Jungs zu einer Folklorevorstellung auf der Hotelterrasse des Royal Sun ein. Miro und Achim fieberten schon Tage zuvor dem Ereignis entgegen. Noch nie vorher waren sie auf einer Hotelterrasse gewesen. Dann kam endlich der große Abend. Miro zog ein weißes Hemd und seine beste Hose an. Eine halbe Stunde verbrachte er vor dem Spiegel, schmierte Olivenöl in sein störrisches schwarzes Haar,. um es zu bändigen. Ein Auto hupte. Enzo. Miro raste die Treppe hinunter. Achim hockte schon erwartungsvoll auf dem Vordersitz, Miro kletterte eilig durch die Hintertür und genoß die Fahrt zu dem Hotel. Er fühlte sich wie ein Tourist. Die Showbühne erstrahlte in hellem Licht. Enzo und die beiden Jungs suchten sich Plätze in der mittleren Reihe. Enzo bestellte zur Feier des Tages Cola für beide. Miro lehnte sich zurück und betrachtete die marokkanische Folkloretruppe, dann die Bauchtänzerinnen. Plötzlich fiel der Spot auf ein glitzerndes Nagelbrett. Miros Blick blieb an den spitzen Nägeln hängen. Wie hypnotisiert konnte er den Blick nicht mehr davon wenden. Ein Fakir mit glitzerndem Goldturban erschien und legte sich langsam auf das Brett, ein Assistent nahm ein Mädchen an der Hand und ließ es auf seinen Kopf steigen. Miro war wie gebannt. Als sich der Fakir auf das Nagelbrett legte, fühlte er einen Ruck durch seinen Körper gehen, so, als ob er selbst auf der Bühne liegen würde. Er starrte noch auf die Bühne, als die Scheinwerfer schon abgeblendet waren. “He, Miro, pennst du?” Achims Stimme riss ihn wieder zurück. “Wie?Nein.” Er sprang von seinem Stuhl und eilte Richtung Bühne. Er mußte das Nagelbrett sehen, anfassen, den Fakir sprechen. “He, wo willst du denn hin?”, rief ihm Achmed nach. “Geht schon vor!” “Und wie kommst du dann heim?”, hörte er noch Enzo rufen. “Egal, tschüss.” Miro hatte Glück. Gleich neben der Bühne lag das Brett mit den glitzernden Nägeln. Vorsichtig näherte er sich, legte seine Finger, eine Hand auf die Nagelreihen. Dann atmete er tief ein, holte Luft und legte sich vorsichtig auf das Brett. Es war ein eigenartiges Gefühl. Er spürte die Nägel, aber es tat nicht weh. Es war ein herrliches Gefühl. Auf einmal spürte er, wie ihn jemand an seiner Hose nach oben zog. Es war der Fakir. “So geht das nicht, Junge, du verletzt dich nur.” “Es tut nicht weh, es macht Spaß”, wiedersprach Miro und wollte sich gleich wieder auf das Brett legen, doch der Fakir hielt ihn an der Schulter fest. “Warte.. Ohne Übung geht das nicht....” “Übst du mit mir? Zeigst du mir, wie das geht?”Miro sah den Fakir mit seinen großen dunklen Augen flehentlich an. kap. 11 Nach dem Abendessen marschierten Julia und Franziska durch die weitläufige Gartenanlage zur Terrasse des benachbarten ‘Hotel Soleil. Hinter einer Oleanderhecke tauchte die Showbühne auf. Julia blieb stehen, ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der Fakir nahm gerade einen großen Schluck aus einer Flasche, die ihm ein Assistent entgegenhielt, dann spuckte er eine lange Flamme aus dem Mund. Seine langen Haare waren streng zurückgebunden, er trug eine Art Lendenschurz aus Leder. Sein Oberkörper war nackt und glänzte im Schein der Flammen. Um den Hals hatte er mehrere Ketten aus Leder und Gold geknotet. Franziska stieß Julia in die Seite. “Ist er das, sag schon?” Julia nickte, ohne den Blick von ihm zu lassen. Franziska entdeckte in der vorletzten Stuhlreihe freie Plätze und wollte gerade losgehen, doch Julia hielt sie am Arm zurück. “Wir bleiben hier hinten.” “Aber von da vorne sieht man doch viel besser”, protestierte Franziska. “Die Show ist sowieso gleich vorbei. Da drüben steht sein Wagen, ich muß ihn auf den Weg dorthin abfangen.” “Gleich aus?”, wiederholte Franziska enttäuscht. “Ich dachte...” “Schscht”, machte Julia und deutete zur Bühne. Der Fakir packte eine brennenden Fackel und strich seine Arme entlang. Dann zündete er damit ein kleines Holzstück an und legte es sich brennend auf die Zunge. Nach einigen Sekunden schloß er den Mund, das Feuer erlöschte. Das Publikum applaudierte begeistert. Franziska schüttelte sich. “Ihhhh, wie hält der das bloß aus?” “Reine Konzentration”, klärte sie Julia auf. “Es läuft nur über den Kopf, über die Willenskraft.” “Schrecklich, findest du nicht?” “Faszinierend!”, murmelte Julia und fragte sich, wie ein Feuerschlucker wohl küssen würde. Nach dem Schlußapplaus sprang der Fakir von der Bühne und lief zu seinem Transporter. Julia packte Franziska am Arm und zog sie mit sich. “Schnell, sonst erwische ich ihn nicht mehr!” Der Fakir stand vor seinem Transporter und zog das Band aus seinen Haaren. Julia blieb neben ihm stehen. “Hallo.” Der Fakir drehte sich um und sah Julia überrascht an. Seine dunklen Augen wirkten durch die schwarze Schminke noch geheimnisvoller und exotischer. Julias Herz schlug schneller. “Ich bin Julia.” Der Fakir reichte ihr die Hand. “Hallo. Seit wann bist du hier?” “Seit zwei Tagen.” Er sah sie etwas vorwurfsvoll an. “Schon seit zwei Tagen? Wieso hast du nicht angerufen, wir hatten es so ausgemacht, oder?” “Ich dachte, ich würde dich schon treffen.” “Hör zu, ic h bin jetzt sehr in Eile. Ich habe noch eine Show in einem anderen Hotel. Willst du dorthin kommen?” Julia zögerte. “Ich weiß nicht...” “Nein warte, wir machen es anders: Ich komme hierher in die Disko von Hotel Soleil. Sagen wir um ein Uhr.” “Gut, ich bin um ein Uhr in der Diskothek.” Der Fakir gab ihr die Hand. “Bis dann.” Er sprang in den Wagen und brauste davon. Es war fünf vor eins. Julia lauerte in einer Ecke und beobachtete die Auffahrt zur Diskothek. Punkt ein Uhr fuhr der bemalte Transporter heran und parkte vor dem Eingang. Der Fakir und ein Assistenten stiegen aus. Miro hatte sich umgezogen, er trug jetzt eine enge Schlangenlederhose und ein getiegertes bauchfreies Shirt. Sein langes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Der Assistent trug noch sein türkis glänzendes Showkostüm. Die beiden gingen in die Diskothek. Julia wartete einen Moment, dann atmete sie tief durch und folgte ihnen. Sie sah sich um. Miro stand an der Bar. Als er sie entdeckte, nickte er ihr kurz zu. Dann kam er auf sie zu, begrüßte sie und stellte ihr Tarek, seinen Assistenten vor. Tarek war ein hübscher Junge mit kurzen schwarzen Haaren, großen dunklen Augen und feinen Gesichtszügen. Die Idealbesetzung für ein orientalisches Märchen, dachte Julia. . Miro setzte sich neben Julia. Tarek verschwand auf die Tanzfläche. "Hast du die Fotos?" Die Fotos. An die hatte sie nicht mehr gedacht, die lagen bei Franziska im Hotelzimmer. "Es tut mir schrecklich leid, ich habe die Bilder im Zimmer liegen lassen." “Macht nichts. Du bist ja länger hier, oder?” Julia nickte. “Eine Woche.” Der Fakir sah sie an. “Nur eine Woche, schade.” “Hm,”machte Julia. Sein Blick verwirrte sie. “Wie heißt du eigentlich richtig? Miro ist doch eine Abkürzung, oder?” “Das sag ich dir morgen.” Miro lächelte auf unwiderstehlich charmante Art. Auf einmal winkte er einen kleinen Jungen heran, der Jasminsträußchen verkaufte. Er nahm einen Strauß aus seinem Korb, gab ihn Julia und küßte ihre Hand. Seine Berührung ging ihr durch und durch. Sie sah auf die Uhr. “Schon zwei, ich glaube, ich gehe jetzt besser ins Bett.” Sie erhob sich. Auch Miro stand auf. “Ich rufe dich morgen an. Sagst du mir deine Zimmernummer?” Julia sah ihn fragend an. “Damit ich dich anrufen kann.” “Ja, sicher, es ist Nummer 306” Julia verbrachte eine unruhige Nacht. Sie wälzte sich hin und her. Erst gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Als sie die Augen wieder öffnete, war das Bett neben ihr leer. “Franziska?” “Was gibt’s?” tönte ihr vom Balkon entgegen. “Ach da bist du.” “Wo bitte sollte ich denn sonst sein?”, kam genervt zurück. “Beim Früstück zum Beispiel.” “Keinen Hunger.” Julia streckte sich und stieg aus dem Bett. Franziska hatte schlechte Laune, an solchen Tagen war es besser, sie in Ruhe zu lassen. Am besten gar nicht ansprechen. Julia zog sich schnell an. “Kommst du mit einen Kaffee trinken?”, rief sie Franziska auf dem Balkon zu. Franziska zuckte die Schultern und löste sich von der Balkonbrüstung. “Warum nicht.” “Gibts einen Grund für deine Laune?”, erkundigte sich Julia vorsichtig. Franziska nickte. “Giancarlo.” “Wieso?” “Er hat gestern abend angerufen und einen Riesenzirkus gemacht. Warum ich ihm nicht gesagt hätte, dass ich wegfahre, und dann auch noch mit einer Freundin nach Arabien. Naja, er war eben mal wieder eifersüchtig, du weißt doch, er haßt es, wenn er mich nicht unter Kontrolle hat.” “Der beruhigt sich schon wieder.” “Ich weiß nicht, er hat sich gestern gar nicht gut angehört.” “Ach komm, das ist doch nicht das erste Mal.Er ist eben sauer. Mann, du hättest ihm auch wirklich früher davon erzählen können. ..” “Klar, um wieder endlose Diskussionen zu haben...” “So ist es auch nicht viel besser, oder?” “Ach, was soll’s. Es geht sowieso nicht mehr lange. Langsam reicht’s mir.” “Jetzt mal langsam...” Franziska winkte ab. “Hör auf, ich habe keine Lust mehr, dar´über nachzudenken.” “Bringt im Moment ohnehin nicht viel. Wir machen einen Ausflug nach Kairui, was meinst du?” “Okay, aber erzähl erst mal, wie’s bei dir gestern gelaufen ist bei dir und dem Fakir.” “Wir haben uns unterhalten, weiter nichts. Er ist richtig nett, gar nicht der Macho, der er auf der Bühne zu sein scheint.” “Aha, und weiter” “Wie? Nichts weiter.” Franziska zwinkerte ihr zu. “Raus damit.” “Ich war müde und bin um zwei verschwunden, als der Nachtclub schloß. Er ruft heute an, hat er zumindest gesagt.” Julia kramte in ihrer Handtasche und zog das Jasminsträußchen heraus. “Von ihm?” Julia nickte mit verliebtem Lächeln. “Ach wie süß. Er wirkt gar nicht wie jemand, der Jasminsträußchen verschenkt.” Julia packte das Sträußchen wieder in ihre Tasche. “Weißt du, es ist über zehn Jahre her, dass ich so verliebt war. Und jetzt hat es mich so erwischt, wie noch nie.” "Alessandro, oder wie hieß der Typ von der französischen Riviera?" "Ja, ja. Stimmt." "Hm. Die Geschichte habe ich ja damals gar nicht so mitgekriegt." meinte Franziska "Ja, leider warst du nicht da. Mir ging's ganz schön dreckig, als das vorbei war." "Ich glaub, zu der Zeit habe ich gerade mein Praktikum bei der New Yorker Zeitung gemacht." "Ist lange her." Julia ging auf den Balkon. "Aber jetzt hat es mich so erwischt, wie noch nie." sagte sie mit sehnsüchtigem Blick auf's Meer hinaus. Franziska warf ihr einen besorgten Blick zu. "Auweia, das wird kompliziert, oder?" Julia drehte sich herum und runzelte die Stirn. "Ach, komm, gehen wir frühstücken.." Nach der zweiten Portion Müsli lehnte sich Franziska zurück. “Uff, ich habe viel zu viel gegessen.” “Hm”, machte Julia teilnahmslos. Franziska trank einen letzten Schluck Kaffee. “Und was steht jetzt auf dem Programm? Wie wär’s mit den Souks, von denen du schon so viel erzählt hast?” “Wie? Ach, ich weiß nicht, und wenn er in der Zwischenzeit anruft, und ich bin nicht da?” Franziska schleuderte der Freundin die Serviette entgegen. “Jetzt mach’s aber halblang. Du willst doch wohl nicht den ganzen Urlaub auf dem Zimmer vor dem Telefon verbringen?” “Das nicht, aber....” “Ok.” Franziska sprang auf und packte die Freundin am Arm. “Keine Widerrede, wir schnappen uns das nächste Taxi und fahren nach Kairui.” Das Taxi brachte sie zum Eingang der Medina. Sie ließen sich durch die Souks treiben. Es war brütend heiß, sie redeten nicht viel. Jeder hing seinen Gedanken nach. Julia sog die Gerüche der Gewürze und die orientalischen Düfte tief in sich auf. Immer wieder sah sie Miros Gesicht vor sich. Seine geheimnisvollen dunklen Augen, sein Lächeln, seinen durchtranierten Körper.. “He, das wär doch was für dich”. Franziska hielt ihr eine schöne Kalligraphie vor die Augen. “Als Arabienfan.” “Wie? Ja, du hast recht, die nehme ich gleich mit. Wieviel?” Der Verkäufer grinste schelmisch. “Fünfzig Dinar.” Julia schüttelte den Kopf. “Dreißig.” Franziska verdrehte die Augen. “Ich haße dieses Handeln.” Für vierzig Dinar bekam Julia schließlich den Zuschlag. Zufrieden steckte sie das Bild in ihre Tasche. Eine Erinnerung... Wieder zurück im Hotel stürmte Julia sofort an die Rezeption. “Hat jemand für mich angerufen?” Die Frau an der Rezeption schüttelte den Kopf. “Nein, Madame.” “Tja, dann eben nicht.” Sie folgte Franziska ins Zimmer und warf sich bäuchlings auf das Bett. “Mir ist so heiß, ich sterbe!”, jammerte Franziska. Julia beobachtete ungeduldig das Telefon. Läute doch endlich. “Ich will nach Alaska...” Julia mußte grinsen. Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Julia zuckte zusammen und griff sofort nach dem Hörer. “Ja, hallo.” Ihr Herz pochte “Hallo Schatz, wollte mal hören, wie’s euch so geht.” Sebastian. Verdammt. “Oh, hallo.” “Also?” “Also was?” “Seid ihr gut angekommen , sind die Zimmer ok. Du hättest ja auch mal kurz durchrufen können.” “Alles bestens.” “Du hörst dich komisch an, ist was?” “Nein, nein, alles klar. Wir wollen gerade gehen, deshalb.” “Na dann, will ich euch nicht länger aufhalten. Viel Spaß noch und melde dich mal, ja. Tschüß Schatz.” “Tschüß Sebastian.” Blitzschnell legte Julia den Hörer wieder auf die Gabel. Franziska hatte das Gespäch mitbekommen. Sie schüttelte den Kopf. “Nicht gut, was du da tust, meine Liebe.” Ehe Julia antworten konnte, klingelte das Telefon erneut. Vermutlich hatte Sebastian etwas vergessen. Julia holte tief Luft. “Ja, hallo?” “Hallo, ich bin Miro, ich habe nicht viel zu tun heute nachmittag, fährst du mit an den Strand?” Julias Herz schlug wieder schneller. “Tja, okay, warum nicht.” Sie sah auf die Uhr, dann sprang sie auf und betrachtete sich im Spiegel. “Oh Mann, wie sehe ich denn aus...” “Julia, Julia”, murmelte Franziska. “Sag nichts. Sag mir lieber, was ich anziehen soll.” Sie verschwand im Bad, stellte sich unter die Dusche, dann inspizierte sie ihren Schrank. Das Rennen machte schließlich eine Jeansshort und ein lässiges T-Shirt. “Du siehst toll aus, und jetzt los”, befand Franziska. Sie war heilfroh, als Julia endlich aus dem Zimmer düste. Julia marschierte zum Hoteleingang und wartete. Es war glühend heiß. Sie tigerte auf und ab. Schon 15 Minuten zu spät. Ob er doch nicht kommt? Hatte er es sich vielleicht anders überlegt? Dann kam der Pförtner auf sie zu. “Telefon, Madam.” “Danke, ich brauche kein Telefon.” “Nein Madam, kennen sie einen Mann namens Mirolah?” Miro. Julia nickte. “Er ist hier am Telefon.” Julia folgte dem Pförtner in das Häuschen. “Tut mir leid, ich bin spät, aber ich komme gleich.” Hörte sie Zouzozs Stimme. “Ich warte höchstens noch fünf Minuten”, fauchte Julia in den Hörer. Was bildete der sich ein, sie in der brütenden Hitze warten zu lassen. Und dann beim Pförtner anzurufen. Damit auch jeder weiß, auf wen sie hier wartet.... “Ich bin gleich da. Tschüß.” Ein paar Minuten später hielt der klapprige VW-Transporter vor dem Hoteleingang. Julia stieg in den Wagen. Neben Miro saß einer seiner Assistenten. Er stellte ihn ihr kurz als Farhat vor. Ein finsterer Typ, ein Teil seiner Haare war bis zu den Ohren herauf kurz rasiert, darüber trug er einen langen glatten, tiefschwarzen Pferdeschwanz. Beide trugen Trainingshosen und Shirts. Zuozou und Farhat unterhielten sich die ganze Fahrt über auf Arabisch. Julia lehnte sich zurück und sah hinaus. Bald hatten sie die Touristenzone hinter sich gelassen, sie fuhren durch einen kleinen Fischerort, dann hielt Miro an einem wilden Strand, an dem nur vereinzelt Gruppen von Einheimischen lagen. Weit und breit war kein Hotel zu sehen, im Hintergrund wucherten wilde Palmen. Miro breitete sein Handtuch aus und zog sich aus. Er trug eine knappe schwarez Badehose, die seinen durchtrainierten, gebräunten Körper gut zur Geltung brachte. Julia sah sich um. Sie war die einzige Europäerin weit und breit. Sie zögerte, doch dann schlüpfte sie aus ihren Jeans und aus dem Shirt und legte sich auf ihr Handtuch. Sie spürte Miros Blicke auf ihrem Körper. Er musterte sie eine Weile, dann sprang er auf und lief ans Meer. Im Sand machte er akrobatischen Übungen, dann lief er ins Wasser. Julia beobachtete ihn. Er bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, die sie an eine Raubkatze erinnerte. Er tauchte kurz unter, kam wieder hoch und warf mit einer schnellen Bewegung seine langen nassen Haare in dem Rücken. Dann winkte er ihr zu. “Komm!” Julia stand auf und ging ins Wasser. Eine Weile schwommen sie nebeneinander her, immer wieder sahen sie sich kurz an. Julia fühlte sich unsicher neben ihm. Sie ging wieder aus dem Wasser und legte sich auf ihr Handtuch. Als das Salzwasser getrocknet war, cremte sie sich ein, setzte ihre Sonnenbrille auf und legte sich auf den Bauch. Schließlich kam Miro auch aus dem Wasser und legte sich neben sie. Julia schielte unter ihrer Sonnenbrille zu ihm. Mit seinen nassen, leicht lockigen Haaren, die sich über seinen gebräunten glänzenden Rücken ringelten, sah er unwiderstehlich aus. Julia stützte den Kopf auf ihren Ellbogen. “Wie lange arbeitest du eigentlich schon als Fakir?” Miro lächelte sie an. “Fünfzehn Jahre.” “Nur hier in Marokko, oder auch im Ausland?” “Nein, ich hatte schon Shows in Amerika, Rußland und Deutschland...... “Und bist du nur Fakir, oder machst du auch noch was anderes?” Miro schüttelte den Kopf. “Ich arbeite auch als Fitness-und Dance-Trainer zum Beispiel für Showgruppen, die im Casino auftreten.... aber ich mag nicht so gerne von mir reden...” Er sah Julia an. “Nimm deine Brille ab.” Julia schob die Sonnenbrille nach hinten. Miro sah ihr tief in die Augen. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Er strich ihr zärtlich durch die Haare, dann zog er sie heran und küßte sie. Erst ganz sanft, dann immer fordernder. Dann hielt er inne ind sah in ihr Gesicht. Julias Gefühle fuhren Achterbahn. Sie war völlig überwältigt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Kuß so intensiv gefühlt zu haben. Miro legte sich zurück. “Küß mich!” Julia sah ihn verwundert an, doch dann beugte sie sich über ihn und küßte ihn. Er erwiderte ihren Kuß lange und leidenschaftlich. “He, Miro!” Miro sah auf. Vor ihm stand Farhat und sagte etwas auf arabisch. Dann sah er sie an. “Es ist spät, wir müssen los. Ich muß die Show heute abend vorbereiten.” Auf dem Rückweg hielten sie vor einem Laden. Farhat sprang heraus . Miro sah Julia durch den Rückspiegel an. “Du küßt gut.” Julia lächelte verlegen. “Ich hätte dich gerne noch länger geküßt.” Bevor Julia antworten konnte, kam Farhat wieder in den Wagen. In der Hand hielt er einen großen braunen Stoffsack, der penetrant roch. Miro sah Julias fragenden Blick. “Futter, für die Hasen”, erklärte er. Julia sah ihn verwundert an. “Hasen? Du hast doch keine Hasen in deiner Show?” Miro lächelte. “Nein, die Hasen sind Futter für die Schlange.” Er hielt an der Auffahrt zum Hotel an, drehte sich um und legte die Hand auf ihren Arm. “Meine zweite Show ist heute hier im Hotel, danach muß ich zu einer marokkanischen Hochzeit.Ich will, dass du mitkommst.” Julia zögerte. Es würde sicher spät werden und sie wollte Franziska nicht so lange allein lassen. “Ich weiß nicht. Ich kenne dort doch niemanden.” Miro sah sie an. “Aber ich will dich bei mir haben.” Julia schüttelte den Kopf. “Es geht nicht.” Als Julia die Enttäuschung in Miros Augen sah, hätte sie ihre Entscheidung am liebsten zurückgenommen, doch es war zu spät. “Okay”, sagte er und hielt ihr die Autotür auf. Julia beugte sich durch das Fenster. “Rufst du mich an, wenn es nicht allzu spät wird?” Miro nickte und rauschte davon. Julia schwebte wie auf Wolken in das Zimmer, ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schnaufte tief durch. Franziska kam in ein Handtuch eingewickelt aus dem Bad und kämpfte mit ihren Lockenwicklern. “Na, wie war dein Nachmittag? Halt, sag nichts. Es ist nicht zu übersehen. Du strahlst so, innerlich...” Julia streckte die Arme nach hinten. “Hach, ich bin so, ......so,....ach, ich weiß auch nicht, es war unglaublich...und jetzt habe ich Hunger. Wann gibt’s Abendessen?” “Sofort, wenn du willst.” Julia sprang auf und wankte Richtung Bad. “Ich bin gleich soweit. Heute abend hat er übrigens in unserem Hotel seine Show.” Mit einem tiefen Seufzer kam sie kurz darauf aus dem Bad heraus. Franziska sah sie überrascht an. “He, vorhin hast du noch gestrahlt wie eine Straßenlaterne und jetzt ziehst du ein Gesicht? Julia seufzte. “Wenn ich nur an übermorgen denke, könnte ich losheulen.” “Der Rückflug, ich weiß.” Julia sah auf. “Hat sich eigentlich Giancarlo nochmal gemeldet?” Franziska schüttelte den Kopf. “Nein, aber das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen.” “Willst du ihn nochmal anrufen, bevor wir zurückfliegen?” Franziska schnaubte wütend. “Dazu habe ich echt keine Lust. Er ist verheiratet und bildet sich allen Ernstes ein, bei mir irgendwelche Rechte zu haben. Ist doch eine Frechheit.” “Wär’s dir denn lieber, er würde sich scheiden lassen?” Franziska sah sie entsetzt an. “Niemals, dann hätte ich ihn ja dauernd am Hals.” Julia mußte grinsen. “Wie du von ihm redest, als wäre er ein lästiges Insekt...” “Nein, so ist das auch wieder nicht. Ich mag ihn ja,. Aber diese ständigen Besitzansprüche und Eifersuchtskisten gehen mir einfach auf den Wecker. Du weißt ja gar nicht, wie gut du’s mit Sebastian hast. Er läßt dir wenigstens deine Freiheit...” “Oh Gott, hör bloß auf mit Sebastian”, unterbrach sie Julia aufgewühlt. “Ich darf gar nicht an ihn denken, sonst...” “Also gut, Schluß mit den Daheimgebliebenen.” kap. 12 Ein lautes Geräusch lässt Miro zusammenfahren. Es klingt wie eine zufallende Tür, oder wie Klatschen, das Klatschen vieler Hände. Es war Applaus, und er, Miro stand auf der Bühne. Er verbeugte sich, hob das Nagelbrett hoch und folgte seinem Meister hinter die Bühne. “Gute Show, oder Raschid? Gib’s zu, ich bin der beste Assistente, den du je hattest...” Raschid warf ihm einen kurzen Blick zu. “Ich habe Kopfschmerzen”, brummte er. Miro verpackte das Nagelbrett sorgfältig in einem Stück Stoff. “Du arbeitest zu viel.” Raschid schlüpfte aus seiner türkisfarbenen Pluderhose. “Was soll ich tun? Ich brauche die Shows, die Auftritte. Wenn ich nicht erscheine, verliere ich meine Verträge.” Miro sah ihn an. “Warum läßt du mich nicht ? Ich meine, ich könnte dich doch doch mal ersetzen. Wir haben doch schon so viel geübt, lass mich dir beweisen, daß ich es kann.” Raschid musterte Miro nachdenklich. Dann legte er die Hand auf Miros Schulter. “Vielleicht hast du recht, Miro. Vielleicht bis du ja wirklich schon so weit.” “Ja, endlich!”, freute sich Miro. “Und wann? Sag mir, wann?” “Wir werden sehen.” “Morgen abend, bitte, morgen abend.” Raschid lächelte. “Ich sehe die Begeisterung in deinen Augen. Das ist schön. Du erinnerst mich an mich, früher. ..Also gut, du sollst deine Chance bekommen. Nächste Woche. Aber bis dahin mußt du noch üben. Du darfst mich nicht blamieren.” Miro baute sich vor ihm auf. “Raschid, mein Meister, du wirst stolz auf mich sein. Ich werde auf dem Nagelbrett schlafen, und auf den Glasscherben, jede Nacht..” Auf einmal vernimmt er ganz dicht an seinem Ohr eine vertraute, weiche Stimme. “Geh nicht, Mirolah, komm zu mir zurück.” flüstert die Stimme seiner Mutter. Miro stand auf demTreppenabsatz seiner Mutter gegenüber und sah die Angst in ihren weisen, dunklen Augen. “Nein, Mirolah,. ich will nicht, dass du heute abend auftrittst.” Noch zwei Stunden bis zu seinem ersten öffentlichen Auftritt als Fakir. Er griff nach der Hand seiner Mutter. “Du mußt mich gehen lassen. Ich kann nicht anders und du weißt es.” Seine Mutter sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an. Es war, als blicke sie durch ihn hindurch. Dann nickte sie. “Ja, Mirolah, ich weiß. Ich weiß es seit der stunde, in der du geboren wurdest.” Dann hüllte sie sich tief in ihr rotes Berbergewand und wandte sich ab. Miro atmete tief durch, stürzte in die Garage neben seinem Haus, zog sich die schwarzglänzende Pluderhose an und wickelte einen goldenen Turban um seinen Kopf. Er betrachtete sein Spiegelbild. Irgendetwas fehlte. Er wollte einzigartig sein heute abend. Kurzentschlossen nahm er den Turban wieder ab, schüttelte seine langen dunklen Haare hin und her. Er schnitt einen goldenen Streifen aus dem Turban und band ihn um seine Stirn. Die langen dunklen Locken ringelten sich auf seinem gebräunten, muskulösen Oberkörper. Besser, aber noch nicht perket. Er lief in die Küche und füllte etwas Asche in eine Schüssel. Er tauchte den Finger tief in die Asche und umrahmte damit seine dunklen Augen. Über die Wangen zog er zwei dicke Linien. Zufrieden nickte er nun seinem Spiegelbild entgegen. Jetzt sah er gut aus, und gefährlich. Kurz darauf stand Miro auf der Freiluft-Bühne des Oriental Imperail Hotels und holte tief Luft. Vor ihm glänzten die Nägel des Nagelbretts. Daneben warteten zwei Mädchen, die beiden hübschesten Touristinnen aus dem Publikum, er hatte sie selbst ausgesucht. Ganz langsam ging er in den Handstand und senkte sich dann auf das Brett. Er verschloß die Augen und versank in einer Dschungellandschaft. Er war nicht mehr auf dieser Welt. Er gab seinem Assistenten ein Handzeichen, hieß ihn die Mädchen auf seinen Rücken steigen. Erst der tosende Applaus holte ihn wieder aus seiner Trance. Mit geschmeidigen Bewegungen richtete er sich wieder auf und sah ins Publikum. Er las Bewunderung und Angst in den Augen der Menschen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so gut geühlt. Laut klirrend breitete jetzt sein Assistent einen Haufen Glasscherben vor ihm aus. Miro schlüpfte aus seinen Stiefeln und krempelte seine Pluderhose hoch. Er winkte den beiden Mädchen, nahm jede unter einen Arm und ging über die Scherben. Er spürte keinen Schmerz, er spürte ein eigenartiges Hochgefühl. Die Musik ging an, der Animateur sprang auf die Bühne und schnappte sich das Mikrophon. “Und das, meine Damen und Herren, war für sie eine Premiere, der erste Auftritt von Fakir Mirolah. Einen großen Applaus, er hat ihn verdient. Ich bin sicher, wir werden von viel von ihm hören - Fakir Mirolah.” Miro verbeugte sich tief. Seine dunklen, nassen Locken klebten in seinem Gesicht. Das Publikum klatschte und jubelte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so gut gefühlt. Wie auf Wolken schwebte er hinter die Bühne. Er griff nach einem Handtuch, um sich abzutrocknen. “Miro?”, hörte er auf einmal eine zarte weibliche Stimme. “Ja?”, er drehte sich um. Die Stimme gehörte einem der beiden Mädchen auf der Showbühne. Sie hatte langes, glattes, helles Haar, strahlende Augen und ein Gesicht wie ein Engel. “Du bist so stark und mutig”, wisperte sie etwas verlegen und schlug die Augen nieder. Miro legte das Handtuch zur Seite und strich über das weiche Haar des Mädchens. “Und du bist so schön.” Es begann die beste Zeit seines Lebens. Er stand jeden Abend auf der Bühne, feilte an seiner Show, baute sein erstes eigenes Nagelbrett, studierte immer neue spektakuläre Nummer ein und er war verliebt in das Mädchen mit den schönen glatten Haaren. Isabella kam jeden Sommer nach Marokko. Zwei Wochen, auf die sich Miro das ganze Jahr freute. Isabella und er verbrachten jede Minute zusammen. Tagsüber lagen sie Handtuch an Handtuch am Strand, schwammen im Meer um die Wette, machten Hand in Hand stundenlange Spaziergänge an der Küste. Am Abend begleitete ihn Isabella zu seinen Shows. Wenn Miro wußte, daß Isabella im Publikum saß, fühlte er sich unbesiegbar. Nach der Show begleitete sie ihn, wartete geduldig, bis er seine Maschinen verstaut und sich abgeschminkt hatte. Sie saß in seinem Traningsraum, zählte die Sätze, feuerte ihn an, wenn er nicht mehr konnte. Gemeinsam aßen sie dann aus einer Schüssel Couscous, das seine Mutter zubereitet hatte. Auch seine Mutter mochte Isabella. Wenn die vierzehn Tage vorbei waren und Isabella zurück nach Deutschland mußte, blieb in ihm eine große Leere zurück. Tag und Nacht dachte er nur an sie, hörte ihre gemeinsamen Lieder, schrieb Briefe, wartete auf ihre Anrufe und versuchte sich mit hartem Training abzulenken. Und er zählte die Tage bis zum nächsten Wiedersehen. kap. 13 Julia und Franziska hatten sich Miros Show angesehen, dann waren sie noch eine Weile am Strand spazierengegangen. Gegen Mitternacht gingen sie zurück auf ihr Zimmer. Julia wartete bis ein Uhr auf den Anruf des Fakir. Franziska neben ihr schlief schon tief und fest. Gegen halb zwei legte sich Julia ebenfalls schlafen. Offenbar schaffte er es heute nicht mehr. Irgendwann riß sie das Klingeln des Telefon unsanft aus dem Schlaf. Julia schreckte hoch und tastete schlaftrunken nach dem Hörer. “Ja, hallo?” “Ich bin Miro, ich will dich jetzt sehen.” Julia rieb sich die Augen und sah auf ihren Wecker. “Weißt du wie spät es ist? Vier Uhr früh.” “Ja, natürlich, ich weiß. Tut mir leid, aber ich mußte noch die Tiere zurückbringen und lange die Zähne putzen. Es dauert immer, bis ich den Geschmack des Feuers aus meinem Mund bekomme.” “Aha”, machte Julia verständnislos. “Ich möchte dich jetzt sehen. Bitte! Ich hole dich in zehn Minuten ab und wir fahren an den Strand, ok?” “Du bist echt verrückt, weißt du das?” “Also in zehn Minuten vorne an der Hoteleinfahrt?” Julia gab auf. Auch sie wollte ihn ja sehen. “Also schön.” Franziska war inzischen auch aufgewacht und hatte das Gespräch kopfschüttelnd verfolgt. Julia zuckte mit den Schulter. “Ach, was soll’s.” Sie schappte sich Jeans und ein T-Shirt und verschwand im Bad. Als sie wieder rauskam, baute sich Franziska vor ihr auf. “Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich es zulassen werden, dass du um diese Zeit verschwindest”, sagte sie ernst. “Ach komm.” Julia marschierte an ihr vorbei und warf einen prüfenden Blick in den großen Garderobenspiegel. “Es ist vier Uhr früh und du willst dich mit irgendeinem wildfremden, vogelwilden Araber treffen!!! Bist du denn jetzt völlig durchgeknallt?”, fuhr sie Franziska an. Franziskas scharfer Ton ließ Julia aufhorchen. “Ich weiß, aber....” Franziska schaufte tief durch. “...Du bist total verknallt in ihn.” Sie mußte grinsen. “Ach Scheiß, was soll’s. Ich würde an deiner Stelle wahrscheinlich auch gehen.” Julia packte die Freundin an der Schulter. “Danke, Franziska.” “Aber sei vorsichtig und versprich mir, dass du nichts Unüberlegtes tust, okay? Und das meine ich verdammt ernst.” Julia nickte. “Versprochen, Ehrenwort.” Und verschwand. Franziska legte sich zurück ins Bett. Sie hätte Julia zurückhalten müssen. Aber wie? Sie hatte kein gutes Gefühl. Miros Transporter wartete schon an der Straßenecke, als Julia aus der Hotelanlage ging. Sie quetschte sich auf den Vordersitz neben ihn und seinen Assistenten Farhat. Schweigend fuhren sie zu einem Strand am Ortsausgang von Makida. Farhat sprang aus dem Wagen und begann am Strand zu joggen. Zouozou nahm Julia an der Hand und führte sie zu einer verlassenen Bretterbude. Sie sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, kein Haus, keine Menschenseele. Es war stockfinster. Was hatte er vor? Was sollte sie tun? Miro lehnte sich gegen die Bude. “Schade, dass du bei der Hochzeit nicht dabei warst”, sagte er und sah sie an. Julia nickte. “Ja, schade, aber ich wollte meine Freundin nicht so lange allein lassen.” “Warte einen Moment.” Miro lief zum Meer, tauchte seine Hände in das Wasser und kam wieder zurück. Er stellte sich ganz dicht vor sie und fuhr mit seinen nassen Fingern über ihre Lippen. “Schmeckst du das Salz?” Dann küßte er sie ganz sanft. “Miro, warte, ich....” “Was ist los?” “Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll...ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber falls du vorhast, naja, du weißt schon...”, stotterte Julia. Miro wich drei Schritte zurück. “Du denkst, ich denke nur an so was?” Er schien ehrlich entrüstet. “Nein, aber ich weiß nicht....” “Hör zu, ich will dir was sagen. Hast du das blonde Mädchen gesehen bei meiner Show heute in deinem Hotel?” Julia überlegte kurz, dann nickte sie. “Sie sah sehr gut aus und sie wollte sich heute Nacht mit mir treffen. Sie hat meinen Assistenten angesprochen. Ich weiß genau, was sie wollte.” Julia sah ihn an. “Wenn es mir nur darum ging, hätte ich mich mit ihr treffen können, oder.” Julia zuckte die Schultern. “Schon möglich.” “Ich habe zu meinem Assistenten gesagt, er soll ihr sagen, ich bin schwul.” Julia mußte grinsen. “Entschuldige, ich hätte das nicht sagen sollen, aber.....” “Ist schon gut, du kennst mich nicht und meinst vielleicht ich bin so, aber das stimmt nicht.” Miro ging in die Hocke und malte mit einem Stöckchen feine Linien in den Sand. “Früher, weißt du, habe ich mich mit vielen Frauen getroffen, aber das ist jetzt anders.” Er schleuderte das Stöckchen mit Schwung von sich und stand auf. “Aber mit mir hast du mich getroffen”, meinte Julia. “Ja stimmt.” Er stemmte sich mit ausgestreckten Armen gegen die Holzbude und sah sie von der Seite an. “Deine Stimme am Telefon hat mir gut gefallen. Ich weiß auch nicht, du bist anders als diese Touristinnen, die mich so oft ansprechen. Ich weiß nicht...” Er stellte sich wieder vor Julia, dann nahm er sie in die Arme und drückte sie ganz fest an sich. Ihren Kopf hielt er in ihren Händen. Julia stand mit dem Rücken zu der Bude. Je enger sich Miro an sie schmiegte, desto mehr drückte sich ein Holzbalken der Bude in ihr Kreuz. Es tat weg, doch es machte ihr nichts aus. Sie wollte den Schmerz spüren, das machte diese Nacht wahr und wirklich. Noch intensiver. Minutenlang standen die engumschlungen da Julia fühlte sich ihm unendlich nahe, sie war unbeschreiblich glücklich. Dann sah er ihr in die Augen und begann sie zu küssen. Zuerst nur ganz leicht und kurz, dann länger und leidenschaftlicher. Julias Herz schlug heftig. Sie wollte ihn, mehr als alles andere. Aber nicht jetzt, nicht so, nicht hier. Er sah ihr tief in die Augen. “Du küßt so gut. Du machst mich verrückt.” Er hielt sie fest umschlungen. Sie fühlte seinen Körper, seine Erregung. Er schob ihren Pulli hoch und küßste sie. Sie bremste ihn. “Wenn du einen Rock anättest, würde ich es jetzt einfach tun, weißt du das?” “Ich dachte, du bist nicht so...” “Ich weiß, aber du machst mich total verrückt, was soll ich da machen?” “Du bist Fakir. Du hast dich doch immer unter Kontrolle, oder?” “Ich bin nicht nur Fakir, ich bin auch ein Mann.” Langsam wurde es hell am Horizont. Er versuchte, den Reißverschluß ihrer Hose zu öffnen. Wenn sie jetzt nicht gingen, würde sie schwach werden..wie gerne würde sie nachgeben, aber es war einfach zu schnell... ”Ich glaube, wir fahren jetzt besser”, stieß sie mühsam hervor. “Es wird schon hell.” Er drückte sie noch einmal fest an sich und ließ dann langsam locker. “Gut, wenn du wirklich willst, dann fahren wir.” Er pfiff seinem Assistenten, der in weiter Entfernung Liegestützen machte. Am Shalimar Palace stieg Julia aus dem Auto. Durch das geöffnete Fenster packte sie Miro am Arm. “Ich rufe dich morgen, ich meine heute, um zwei Uhr an, in Ordnung. Wir können an den Strand fahren, oder du kommst zu mir, wie du willst.” Julia nickte. Êr hielt ihren Arm noch eine Weile fest, dann ließ er los und brauste davon. Julia sah ihm hinterher, wie er im Morgengrauen verschwand. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie in ihrem Leben zum letzten Mal so glücklich gewesen war. Noch nie zuvor hatte ein Mann eine solche Faszination auf sie ausgeübt. Miro war eine Mischung aus Exotik, Männlichkeit, aber auch Sensibilität und Charme. Und alles vor einer Kulisse wie aus Tausendundeiner Nacht. Sie fühlte sich wie in einem Hollywoodfilm. Als sie sich gegen halb sechs ins Hotelzimmer schlich, schlief Franziska tief und fest. Julia legte sich aufs Bett und schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein. Beim Frühstück ließ sich Julia nur einen Kaffee bringen. Sie hatte keinen Hunger. Franziska nahm den Löffel von ihrem weichgekochten Ei und wedelte damit vor ihrer Nase. “Hör mal, meine Liebe. Auch du kannst nicht nur von Luft und Liebe leben. Du holst dir jetzt sofort wenigstens einen Joghurt und eine Scheibe Baguette”, forderte sie streng. Julia rümpfte die Nase. “Du, ich habe echt keinen App...” “Schluß jetzt!”, unterbrach sie Franziska. “Sieh dich mal an, bald fällst du durch Größe 34, das ist langsam echt nicht mehr schön.” Julia seufzte. “Ich weiß, aber ....” Franziska blieb unerbittlich. “Kein Aber, du mußt was essen, sonst bekommst du einen Kreislaufkollaps.” Julia schnappte sich ein Stück Baguette und kaute. “Wie wäre es, wenn wir jetzt an den wilden Strand fahren, wo ich gestern mit Miro war? Kein Tourist weit und breit und optimal für ein paar gute Fotos.” “Hört sich gut an”, stimmte Franziska zu. Julia fand auf Anhieb zu dem Strand zurück. Mit dem Taxifahrer vereinbarten sie, dass er sie nach zwei Stunden wieder abholte. Sie suchten sich ein Plätzchen unter einer Palme. Franziska legte sich auf ihr Handtuch und beobachtete die Freundin, die Strandaufnahmen machte. Auf einmal kamen drei junge Marokkaner auf prachtvollen Pferden angeritten. “He!”, Julia winkte ihnen zu. “Würdet ihr für mich posieren?” Die Jungs stellten sich gerne zur Verfügung. Julia war begeistert. Die Fotos würden spitzenmäßig werden. Pünktlich um zwei Uhr rief Miro an. Mit ztterndern Händen nahm Julia den Hörer ab. “Hallo, wie geht’s?” “Gut, und dir....” “Ich schicke jemandem mit dem Taxi, der dich am Hotel abholt. Er bringt dich zu mir”, sagte er knapp. Julia zögerte. Sie wußte, was das bedeutete. “Bis später?”, drängelte Miro am Telefon. Julia holte tief Luft. “Gut, bis später.” Sie schnappte sich einen Minirock und ein Top aus dem Schrank und verschwand im Bad. Franziska sah ihr besorgt hinterher. “Hör mal”, sagte sie, als Julia aufgestylt wieder aus dem Bad kam. “Du hast keine Ahnung, welche Auswirkungen ein Seitensprung auf eine Beziehung haben kann. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich warne dich., wenn du mit dem Fakir schläfst wird es mit Sebastian nie mehr so sein, wie vorher. Es verändert sich alles, glaub mir und du kannst es nie wieder rückgängig machen.” Nadaj hielt einen Moment inne. Es war sonst gar nicht Franziskas Art so ernsthaft zu reden. “Ich weiß, das willst du jetzt alles nicht hören”, fuhr Franziska fort. “Aber wenn du es tust, zerstörst du vielleicht deine Ehe.” Nein, davon wollte Julia jetzt wirklich nichts hören. Ihre Ehe, Sebastian, alles war so weit weg, hatte im Moment keinerlei Bedeutung für sie. Sie wollte nur eines: Mit Miro zusammensein. “Ich weiß, du meinst es gut”, sagte sie zu Franziska. “Aber ich fürchte, dieses Risiko muß ich eingehen.” Sie sah in den Gaderobenspiegel, zog ihren Rock zurecht, schlüpfte in ihre Slingpumps, nahm Handtasche und Sonnenbrille. Ein letzter Kontrollblick in den Spiegel. “Kann ich so gehen?”, fragte sie Franziska, die sie vom Bett aus nachdenklich beobachtete. “Perfekt”, meinte Franziska knapp. Sie stand auf und begleitete Julia zur Tür. “Ich wünsche dir einen wunderschönen Nachmittag. Aber paß auf dich auf, ja!” “Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin zum Abendessen wieder zurück.” kap. 14 Auf einmal fühlt sich Miro eigenartig unruhig. Die Bilder in seinem Kopf verlieren die Kontouren, es ist ein Gefühl, als würde das Blut mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Körper rasen. “Herzrasen, einen Arzt, schnell, einen Arzt”, dringt eine Stimme wie durch einen Wattebausch an sein Ohr. “Allah hilf, er stirbt. Mirolah nein, nicht, Mirolah....”, hört er die warme, weiche, wohlklingende Stimme seiner Mutter. Er sieht in ihr Gesicht, doch langsam verwischt es und wandelt sich zu Isabellas Gesicht. Es war im vierte Sommer nach seinem ersten Auftritt. Ein Tag noch, dann würde Isabella wieder kommen. Mirolah freute sich auf sie wie ein Kind auf Weihnachten. Ihr Flugzeug landete um neun Uhr morgens, das bedeutete, dass sie den ganzen Tag für sich hatten. Etwas trübte seine Vorfreude, seit ihrem letzten Anruf hatte er ein eigenartiges Gefühl. Isabella war etwas kurzangebunden gewesen, ihre Stimme hatte kühler geklungen. Doch Miro wischte den Gedanken ganz schnell wieder weg,. Isabella wollte ihn am Nachmittag um zwei Uhr am Strand vor ihrem Hotel treffen. Miro ging extra zum Frisör und ließ sich seine langen dunklen Haare glattziehen, er wollte schön sein für sie. Diesmal wollte er sie fragen, ob sie sich vorstellen könnte, mit ihm zu leben. In Deutschland vielleicht. Er könnte zu ihr ziehen, in Deutschland auftreten und sie wären immer zusammen. Nicht sofort, aber wenn sie die Schule beendet hatte. Sie hatten ja alle Zeit der Welt. Isabella Lahouar, buchstabierte er vergnügt, klang gut. Er war schon um ein Uhr am Strand und wanderte ungeduldig auf und ab. Dann endlich kam sie, er erkannte sie schon von weitem. Ihre Haare glänzten in der Sonne. Miros Herz machte einen kleinen Sprung. Er lief auf sie zu und schlang seine Arme um sie. “Isabella, Isabella, Isabella, endlich.” Er wühlte seinen Kopf tief in ihr seidenweiches Haar. “Mhm, du bis so weich, du riechst so gut, wie hab ich dich vermisst. Ich laß dich nie wieder los....” Isabella befreite sich aus seiner Umarmung. Miro hielt inne. Er fühlte ein merkwürdiges Gefühl in sich aufsteigen. “Was ist?” Isabella senkte den Blick. “Ich...es geht nicht....ich bin nicht allein hier, Miro.” “Ich weiß, mit deinen Eltern, wie immer.” Isabella schüttelte den Kopf. “Nein, ich...”, sie holte tief Luft. “Miro ich bin mit meinem Freund hier.” Miro sah sie verständnislos an. “Aber...ich bin doch dein Freund.” “Ja, nein, doch....sicher, wir sind Freunde., aber das mit Tim, weißt du, das ist etwas ernstes, du....du wirst ihn kennenlernen, du wirst ihn mögen, er ist ein toller Typ...vielleicht können wir ja mal was zu dritt unternehmen...”, stotterte Isabella. Miro fühlte sich plötzlich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er konnte Isabella nur noch wortlos anstarren. “Wir.. wir haben uns verlobt, meine Eltern haben eine riesige Party für uns veranstaltet. Weißt du, meine Eltern sind ganz glücklich mit Tim. Er kommt aus einer guten Familie, studiert Jura, und weiß einfach alles.” Miro sah auf den Boden. Sein Blick fiel auf einen glänzenden Ring an ihrer Hand . Plötzlich fühlte er eine unendliche Leere und Kälte in sich aufsteigen. Isabella zuckte mit den Schultern. “Tut mir leid, dass du das so schwer nimmst, ich meine, das mit uns war doch nur eine.....”, sie suchte nach Worten. “Naja, eine Urlaubsgeschichte..” “Eine Urlaubsgeschichte”, wiederholte Miro. “Für mich warst du alles.” “Ja, eine schöne Urlaubsgeschichte natürlich”, beeilte sich Isabella zu sagen. “Ich werde mich immer gerne an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Aber es war doch klar, dass es irgendwann vorbei sein würde.” Miro. schloß die Augen. Jedes ihrer Worte verletzte ihn mehr als ein Messerstich. “Siehst du, wir leben in verschiedenen Welten. Sicher, ich mag dich, aber wie hätte das weitergehen sollen? Hätte ich in Marokko leben sollen, oder vielleicht du in Deutschland? Was denkst du hätten meine Eltern gesagt, meine Verwandten, meine Freunde? Hallo Leute, das ist Zuozou, mein künftiger Mann, ein marokkanischer Fakir..Nein, Miro”, Isabella schütttelte den Kopf. “ Du mußt mich verstehen, ich muß an meine Zukunft denken.” Miro wurde übel. Er mußte gehen, mußte sich übergeben. Er sah ein letztes Mal in Isabellas Engelsgesicht, das ihm plötzlich erschien wie ein häßlich grinsende Fratze. “Ich habe dich mehr geliebt als mein Leben. Ich habe meine ungeborenen Kinder in deinen Augen gesehen. Du hast mein Herz gebrochen, Isabella. ” © 2002 by Anna Leoni Wollt ihr wissen, wie die Geschichte weitergeht? Dann schickt mir eine Mail! Liebe Grüße an alle meine Fans! Anna Leoni
Home